■ Der Streit um die Unabhängigkeit der Krim: Kiew ist nicht Grosny
Boris Jelzin ruft morgen früh den ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma an: „Sag mal, Ljonja“, fragt er, „ich kann mich nicht recht erinnern, wohin ich gestern abend meine Armee einmarschieren ließ, zu dir oder zu Dudajew?“ Dieser Witz kursierte in Kiew nach der russischen Invasion in Tschetschenien. Wird jetzt aus dem Witz der Ernstfall?
Alle Voraussetzungen dafür scheinen auf den ersten Blick da zu sein: Über siebzig Prozent der Bevölkerung auf der Krim sind Russen. Das kürzlich aufgelöste Parlament der Autonomen Republik und der seines Postens enthobene Präsident strebten schon immer Richtung Rußland. Wie es für die nationalterritorialen Konflikte üblich ist, greift man zu historischen Argumenten: Bis 1954 gehörte die Krim zur Russischen Sozialistischen Föderalen Republik und wurde dann zum 300. Jahrestag des Einigungsvertrages zwischen Kiew und Moskau an die Ukraine abgetreten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion wollen die russischen Nationalisten das Geschenk zurückhaben. Boris Jelzin bräuchte nicht einmal seine Truppen einmarschieren zu lassen. Sie sind schon da. Die Schwarzmeerflotte untersteht nach wie vor dem russischen Oberbefehlshaber Jelzin.
Die Ukrainer beharren darauf, die Integrität ihres Landes zu wahren. Ein Argument, zu dem auch Jelzin kürzlich gegriffen hat, um die Invasion in Tschetschenien zu rechtfertigen. Doch im Gegensatz zu den Russen haben die Ukrainer bis jetzt nicht gegen die Menschenrechte verstoßen. Es liegt lediglich ein Verstoß gegen die Verfassung des „Krim-Staates“ vor, die Kiew für illegitim hält.
Die Behauptungen des prorussischen und prokommunistischen Krimpräsidenten Meschkow, es seien die Elitetruppen des ukrainischen Innenministeriums auf die Halbinsel verlegt worden, sind bis heute nicht bestätigt. Allem Anschein nach versucht er, den extremen Nationalisten in Rußland folgendes Argument in die Hände zu spielen: Da Kiew einen Krieg gegen die russische Minderheit beginnt, darf diese auch mit kriegerischen Mitteln verteidigt werden.
Mag Boris Jelzin aus seiner Blamage in Tschetschenien auch nichts gelernt haben – Kiew ist nicht Grosny, im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist der ukrainische Präsident Kutschma prorussisch orientiert. Die territoriale Integrität der Ukraine wurde vom Kreml anerkannt. Ein umfangreicher Vertrag mit Rußland ist in Vorbereitung. Darin sollen die bestehenden Probleme – etwa das der Schwarzmeerflotte – geregelt werden. Boris Jelzin hat jetzt eine gute Chance, sein Konzept des „Nahen Auslands“ auf die Probe zu stellen. Bleibt also zu hoffen, daß der Witz über Jelzins Vergeßlichkeit ein Witz bleibt. Boris Schumatsky
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