■ Der Streik der Gefängniswärter in Frankreich: Häftlinge als Geiseln
Häftlinge als Geiseln
Paris (taz) —Frankreichs Häftlinge werden nervös. Nachdem die Streikwelle der Gefängniswärter zeitweilig 170 von insgesamt 182 Gefängnisse erfaßt hatte, kam es in der Nacht zum Mittwoch zu ersten Meutereien. Im Knast von Maubeuge in Nordfrankreich zerschlugen 30 Knackis das Inventar; die Männer waren seit vier Tagen nicht mehr aus ihren Zellen herausgekommen. Auch in Dunkerque meuterten Häftlinge. „So legitim die Forderungen der Wärter auch sein mögen, es geht nicht an, daß sie die Häftlinge als Geiseln nehmen“, protestierte die Gewerkschaft der Anwälte gegen den Streik. „Das droht zu einem wahren Pulverfaß zu werden.“
Die Wärter setzen die Sicherheit aufs Spiel, um ihre Forderung nach mehr Sicherheit durchzusetzen: Sie verlangen 2.500 zusätzliche Posten, mehr Autorität und Disziplin sowie spezielle Sicherheitsvorkehrungen für die Bewachung besonders gefährlicher Häftlinge. Geld fordern sie nicht. Justizminister Vauzelle versuchte, die Aufpasser mit Sanktionen zurück an ihren Arbeitsplatz zu zwingen: 39 Wärter wurden bereits für eine Dauer von drei Monaten vom Dienst suspendiert, mindestens zehn Wärtern droht eine einjährige Suspendierung. Am Mittwoch erhielten erneut 300 Aufpasser Briefe, die ihnen mit Entlassung drohten, falls sie die Arbeit nicht sofort wieder aufnehmen. Einige entlassene Wärter begannen einen Hungerstreik. Die Gewerkschaften lehnten Gespräche mit dem Minister ab, solange die Sanktionen nicht zurückgenommen worden seien. Regierungschef Beregovoy stützte seinen Minister und erklärte, „der Respekt der republikanischen Ordnung“ müsse insbesondere in diesen spannungsgeladenen Tagen vor dem Referendum über Maastricht aufrechterhalten werden.
In den Gefängnissen gärt es seit vier Wochen: Mitte August wurde in Rouen ein Wärter von einem Häftling tödlich verletzt. Daraufhin kam es zu ersten Streiks, die wiederum Meutereien der Häftlinge auslösten. In Mulhouse, wo Knackis aufs Gefängnisdach gestiegen waren, stürzte einer von ihnen zu Tode. Bei Verhandlungen mit den Gewerkschaften versprach der Justizminister damals 730 neue Stellen, nach Ansicht der Wärter ist das nicht genug. Anfang September flüchtete ein Häftling in der Bretagne mit Hilfe eines Hubschraubers. Ein zweiter Fluchtversuch per Helikopter endete mit einer Schießerei, dabei starb der Flüchtling. Am selben Tag kam es in einem anderen Knast zu einer Meuterei, bei der die Häftlinge 20 Wärter vorübergehend in Geiselhaft nahmen. Am Freitag flüchteten neun bewaffnete Schwerverbrecher aus dem Knast von Clairvaux in der Champagne, der als sicherstes Gefängnis Frankreichs gilt. Es kam zu einer Schießerei, einer der Flüchtenden und ein Wärter starben. Danach hatten die Aufpasser die Nase voll und verweigerten den Dienst.
In den Gefängnissen müssen seit dem Wochenende über 3.000 Gendarmen, Bereitschaftspolizisten und Soldaten die notwendigsten Arbeiten verrichten. Die Gewerkschaften der Sicherheitskräfte haben dagegen protestiert, daß sie stets da eingreifen müssen, wo die Regierung die sozialen Probleme nicht meistern kann. Sie erinnerten daran, daß sie in diesem Sommer schon gegen streikende Bauern und Lkw-Fahrer vorgehen mußten. Bereitschaftspolizisten, die in ein Gefängnis mit Schwerverbrechern in den französischen Alpen geschickt worden waren, erklärten, sie hätten nicht die Mittel, um die Ordnung zu garantieren.
In vielen Anstalten sind die Knackis durch den Streik fast ununterbrochen in ihre Zellen gesperrt, Sprechstunden, Spaziergänge und teilweise sogar das Duschen fallen flach. Zugleich bremst der Arbeitskampf den Justizapparat: In mehreren Städten mußten neu Verurteilte in Kommissariaten eingesperrt werden.
Unterdessen wird das „sicherste Gefängnis von Frankreich“ geleert: Die 350 in Clairvaux einsitzenden Verbrecher wurden auf drei andere Gefängnisse verteilt. Die Wärter haben gedroht, sie würden keinen Fuß mehr in das Gebäude setzen, bevor es nicht von oben bis unten nach weiteren Waffen durchsucht worden sei. Sie weigern sich jedoch, mit der Aktion zu beginnen, solange der Minister die Sanktionen aufrechterhält.
Schuld an der Malaise in den Gefängnissen ist der Mangel an Wachpersonal, sowie die totale Überbelegung. Am 1. Juli saßen 54.811 Männer und Frauen hinter Gittern, das ist die höchste Zahl seit 44 Jahren. Selbst das vor fünf Jahren gestartete Mammut-Programm zum Bau von 25 neuen Strafanstalten mit 13.000 Plätzen war zu niedrig angesetzt, denn bei seiner Fertigstellung wird es insgesamt „nur“ 50.000 Plätze hinter Gittern geben. Für diese Zustände ist die Justiz mitverantwortlich. So hat sich die Zahl der lebenslangen Strafen in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt. Ein neues Strafgesetz, das 1993 in Kraft tritt, dürfte diese Tendenz noch verstärken: es setzt die meisten Höchststrafen noch herauf und führt ein Strafmaß von 30 Jahren ein. Bettina Kaps
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