: Der Stift als Waffe
Jonathan Lethem begibt sich mit seinem Erzählband „Menschen und Superhelden“ in die Welt der Comics
Bedeutende Romane bringen ihren Autoren manchmal auch einen Nachteil: die Erwartung beim Publikum und bei den Kritikern, dass das nächste Buch noch besser, mindestens aber gleichwertig werden muss. Diesen Druck wird auch der amerikanische Schriftsteller Jonathan Lethem nach dem Erscheinen seines unfassbar großen Brooklyn-Romans „Die Festung der Einsamkeit“ verspürt haben. Nun liegt mit dem Storyband „Menschen und Superhelden“ sein neuestes Buch auf Deutsch vor, und Lethem zeigt, dass er geschickt und spielerisch mit dem Erwartungsdruck umgehen kann. Denn viele seiner neuen Storys schreiben einfach einen Nebenstrang aus „Die Festung der Einsamkeit“ fort. Neben anderem fanden die beiden jugendlichen Romanprotagonisten Dylan und Mingus durch ihre Liebe zu Comics zueinander.
Folgerichtig begegnen uns auch diesmal allerhand Superhelden „aus dem Marvel-Universum“, aber auch aus den Veröffentlichungen anderer Comicverlage. Da ist zum Beispiel „Vision, ein grüblerischer Android mit übernatürlichen Kräften“, der eigentlich Adam Cressner heißt und ansonsten ein ganz normales Leben führt. Und da ist auch der intellektuelle, im Aktionsradius aber eher schlichte, in einer Hippiekommune lebende „Superziegenmann“ alias Ralph Gersten.
Bei allen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass sie mit prominenten Comic-Helden wie Superman oder den Fantastischen Vier nicht mithalten können, wobei zumindest „Vision“ noch als „eine Art Kultfigur“ gilt. „Superziegenmann“ erweist sich hingegen als restlos abgehalfterte Figur. Schon im Comic nach nur fünf Folgen als Katzen rettender Langweiler durchgefallen, endet auch noch seine einzige Heldentat im echten Leben tragisch.
Genau hier greift die zweite Ebene des Buchs, in der nicht Superhelden, sondern die Menschen hinter den Figuren gefragt sind. Der Icherzähler der „Superziegenmann“-Story stellt schließlich angesichts des gescheiterten Heroen fest: „Hatte Superziegenmann überhaupt etwas außerhalb der Maßstäbe seines Comics erreicht? Wie wenig heldenhaft es auch sein mochte, brauchte die Welt nicht jemanden, der Kätzchen von Bäumen rettete?“
Mit so wenig mag sich die Hauptfigur einer anderen Story nicht zufrieden geben. Dieser ist ein gefragter Comiczeichner, der die Motive seiner utopistischen Zeichnerkollegen ausschlachtet und von dem es heißt, er hebe „seinen Stift wie der Tod seine Sichel und stieß diese verträumten untauglichen Welten in den Abgrund“. Doch sein Werk der Zerstörung findet dort Grenzen, wo sich eines seiner Geschöpfe gegen ihn wendet.
Lethem entwickelt Geschichten voll Spannung und elegant inszenierter Überraschungen. Die im Comic üblichen „Booms“, „Splashs“, „Pengs“ und fetten Ausrufezeichen braucht er nicht. Seine Anlehnung ans Genre drückt sich vielmehr in der liebevollen Auswahl abseitiger und gestörter Heldengestalten sowie in hübschen sprachlichen Bildern aus. In „Die Brille“ wird ein Optikergeschäft so charakterisiert: „Der Laden sah ohne Kunden aus wie die Augenfabrik eines Zeichentrickfilmers, hunderte von feinen Umrisslinien, die sehnsüchtig auf Pupillen warteten, auf Münder. Ihnen fehlte der Ausdruck.“
Am meisten aber beeindruckt in „Menschen und Superhelden“ die Formenvielfalt. Jonathan Lethem beherrscht den klassischen Science-Fiction in Kleinformat im Stil eines Philip K. Dicks („Auffahrt Fantasie“) genauso wie die Shortstory („Das Spray“). Er kann Freundschaft und Liebe mittels einer skurrilen Beinaheliebesgeschichte („Vivian Relf“) oder durch einen zärtlichen Brief („Die Nationalhymne“) ausdrücken. Das Ergebnis fällt immer ähnlich aus: Menschen sind Superhelden. MAIK SÖHLER
Jonathan Lethem: „Menschen und Superhelden“. Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Berlin 2005, 176 Seiten, 17,80 €