: „Der Staatsterror ist grundlegende Politik“
■ Auszüge aus der Rede des prominenten türkischen Sozialwissenschaftlers Ismail Besikcis vor Gericht
Seit Mitte März sitzt der türkische Sozialwissenschaftler Ismail Besikci wieder hinter Gittern. Besikci, der als einziger Wissenschaftler in der Türkei über Kurdistan forscht und deshalb über ein Jahrzehnt in türkischen Gefängnissen zubrachte, hat jüngst zwei Bücher über Kurdistan publiziert. Bis zu 15 Jahren Gefängnis forderte deshalb der Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes Istanbul wegen „Propaganda in der Absicht, die Nationalgefühle zu zerstören oder zu schwächen“. Im folgenden Auszüge aus Besikcis Rede vor Gericht, in der er radikal mit der Kurdenpolitik des türkischen Staates abrechnet:
„Es ist nicht das erste Mal, daß ich wegen Schriften zur Wissenschaftsmethodik und der Kurdenfrage vor Gericht stehe. Ich war seit 1967 zu verschiedenen Zeitpunkten und vor verschiedenen Gerichten angeklagt. Die Inhalte der Anklageschriften haben sich nicht verändert. Seit Ende der sechziger Jahre stets dieselben Anschuldigungen, dieselbe Terminologie: „Die Bürger der türkischen Republik heißen Türken. In der Türkei existiert nur die türkische Nation und die türkische Sprache. Die Existenz einer anderen Nation als der türkischen, einer anderen Sprache als der türkischen kann nicht hingenommen werden. In der Verfassung, im türkischen Strafrecht, im Parteiengesetz, im Gesetz über das Kriegsrecht mag drinstehen, daß jedermann Türke ist, daß die Existenz einer anderen Nation, einer anderen Sprache, einer anderen Kultur nicht behauptet werden darf. Dies mag legal sein. Aber es ist illegitim. Egal ob die Gesetzgebung, die die kurdische Nation, die kurdische Sprache und die kurdische Kultur leugnet, von fünf Generälen oder von 450 Abgeordneten geschaffen sind. Sie sind illegitim.
Es gibt ein herrschendes Verständnis in den türkischen Universitäten, bei türkischen Professoren und Schriftstellern, Parteien und Medien. Sie findet sich auch in der Anklageschrift des Staatsanwaltes. Demnach hat jeder Bürger in der Türkei die gleichen Rechte, niemand wird aufgrund seiner Sprache und Kultur benachteiligt. Doch es gibt eine Bedingung für die „Gleichheit“, eine grundlegende Bedingung: Ein Mensch „kurdischer Abstammung“ muß seine eigene Identität verleugnen.
In Kurdistan ist der Staatsterror grundlegende Politik. Die türkischen Sicherheitskräfte - Kommandoeinheiten, Gendarmerie, Polizei und Sondereinsatztruppen - überfallen und durchkämmen Dörfer. Die Dorfeinwohner werden um den Dorfplatz versammelt, Kinder und Frauen auf der einen, Männer auf der anderen Seite. Die Männer werden nackt ausgezogen. Vor den Augen der Frauen und Kinder werden die Männer gefoltert. An die Geschlechtsorgane der Männer werden Seile angebunden, die die Frauen im Dorf führen sollen. Die Menschenwürde wird mit Füßen getreten.
Heute werden in Kurdistan Menschen von Angehörigen der Sicherheitskräfte umgebracht. Manchmal aus Rache, manchmal um die Menschen einzuschüchtern. Die Eingaben der Verwandten der Ermordeten bei den zuständigen Behörden bleiben ohne Folge. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Kommandanten, der den Mordbefehl gab, und die Mörder wird nicht eingeleitet. In der politischen Landschaft der Türkei haben die Parteien trotz Millionen Wählerstimmen kaum Einfluß. Ein paar Generäle kommen, ergreifen die Macht und schließen die politischen Parteien. Die Kurdistan-Politik der Türkei wird nicht von der Regierung bestimmt. Sie wird bestimmt von der Armee und dem Geheimdienst MIT. Sie ist Staatspolitik. Die Kurdistan-Politik wird vom Nationalen Sicherheitsdienst diktiert. Die Regierung hat noch nicht einmal das Recht, darüber zu beraten. Auch die Opposition muß ohne Abstriche diese Staatspolitik unterstützen. Die Türkei kann mit ihrer Kolonie Kurdistan nicht ihren Platz in der demokratischen Staatengemeinschaft des Westens einnehmen.“
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