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Der Roman, von dem die Nation sprichtDie Untersuchung oder Der Untergang des Hauses Kohl

Die Autoren: Elke Schmitter, Georg M. Oswald, Elfriede Jelinek, Hanns-Josef Ortheil Gastbeitrag von Hans Magnus EnzensbergerKapitel 1

“Die Wahrheit?!?“

von Elke Schmitter

Erstaunlicherweise brachte Dirk van Becker das Wort mit einem Zischlaut heraus, das “W“ zwischen die geschwollen wirkende Unterlippe und die weißen, ein wenig eng stehenden Zähne gequetscht. Unglauben und Ekel beherrschten sein Gesicht, die breiigen, überfütterten Züge bekamen tatsächlich eine Kontur.

Ob sich Schwule inzwischen auch die Lippen aufspritzen ließen? Hartmut Gossel musterte sein Gegenüber in regungslosem Abscheu. Er ließ das Wort im Raum hängen und abtropfen; vermutlich war es das einzige Mal, dass die mit Aluminium verkleideten Wände, die Schautafeln mit früheren Erfolgen, das Großportrait von Kaplan (in einem echt vergoldeten Rahmen, wie die Firmenlegende wusste) den Klang dieser Vokabel reflektierten, mit der das Abendland seine vom Aberglauben abgewandte Geschichte begonnen hatte, in eine Felshöhle gekrümmt, demütig kauernd, den Elementen ausgesetzt - und doch schon stark und selbstbewusst genug, um eine Unterscheidung zwischen Schein und Sein zu wagen, wie diese Teletubbies und Warmduscher sie nicht einmal mehr verstanden.

Langsam füllte sich das Besprechungszimmer. Aus dem mit dunkelrotem Samt ausgeschlagenen Gang - als würde man zu einer Oscar-Verleihung schreiten, dachte der dicke Schmidt, der die Hände aus den Hosentaschen nahm, da er merkte, dass Gossel ihm gleichgültig entgegensah - kamen Männer, in Grüppchen, aber häufiger vereinzelt, ausnahmslos in dunklen, körpernah geschnittenen Anzügen und allerdings farblich stark variierenden Oberhemden. Nur der dünne Schmidt trug unter dem Jackett einen kragenlosen Pulli aus fleischfarbenem, fluoreszierendem Garn.

“Meine Herren!“ Gossel räusperte sich. Er spürte den fragenden, immer auch pampigen Blick von den beiden Neuen aus dem elften Stock auf sich ruhen, ergänzte: “ und meine Damen!“

Ruhe trat ein. Beinahe dreißig Menschen saßen an dem ovalen, mit Aluminium legierten Tisch, die Hände vor sich wie an der Garderobe abgegeben, und sahen ihn an: erwartungsvoll, mit einer aus latenter Aufsässigkeit und kaum bewusster Bewunderung gemischten Aufmerksamkeit, vielleicht bereit zu einer Revolte, aber gewiss zu dumm, um sie durchzuführen.

“Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Herr Kaplan, der heute leider verhindert ist - er hat einen Termin mit dem Bundeskanzler -, ist angesichts der jüngsten Entwicklung besorgt, um nicht zu sagen: alarmiert. In dem uns aufgezwungenen Wettkampf mit VLTR haben wir in den vergangenen Wochen ein trauriges, um nicht zu sagen: erbärmliches, sogar ein trostloses Bild abgegeben. - Natürlich haben wir das Jahr mit Erfolgen begonnen - sonst säßen wir nicht hier. Ich erinnere an Die Liebe unter Sonne und Segel, bei der die 483. Folge nachweislich sogar die Gruppe der Vier- bis Achtjährigen erreichte, die für das Themenspektrum “saubere Erotik“ sonst kaum zu gewinnen ist. Vermutlich hat hier das verstärkte Engagement unseres Werbepartners zur Produktkette “Pups & Pudding“ günstig gewirkt. Sie wissen, dass Herr Kaplan persönlich mit dem weltweit agierenden Mutterkonzern Sonderkonditionen vereinbart hat, die auch die zweite Staffel begleiten werden. - Der Zweiteiler Kampf der Herzen ist nicht ganz so gut gelaufen wie erwartet, obwohl es Anselm gelungen ist, Iris Berben für die Titelrolle zu gewinnen. Eine erste Auswertung hat ergeben, dass die Kombination der Schwerpunkte “neue Verbindung in der Lebensmitte“, “lesbische Liebe“ und “körperbehindertes Kind“ nicht ankommt, vielleicht muss man das körperbehinderte Kind durch ein mongoloides ersetzen - VLTR 3 hatte damit in der Adventszeit beneidenswerte Erfolge - oder, in vergleichbaren Fällen, durch einen älteren Krebspatienten. Möglicherweise war auch Saarbrücken als Location eine falsche Wahl; Hans-Günther war da ja von Anfang an skeptisch. Trotzdem ist diese Sache noch besser angekommen als Vera's Welt, die, vor allem wegen Jenny Elvers, immerhin als die Brücke über das Sommerloch geplant war. Die Sendezeit war ungüstig, weil um nur zehn Minuten versetzt die neue Talkshow Muchos Machos! ausgerechnet mit Heiner Lauterbach anlief, aber mit solchen Unglücksfällen muss man eben fertig werden. Die Umfrageergebnisse sind übrigens klar: Eine Prostituierte in der Hauptrolle ist für die Siebzehn- bis Siebendunddreißigjährigen in mittleren und Großstädten gut vorstellbar und eine attraktive Wahl, während die ältere Landbevölkerung, und da vor allem die Frauen ohne Abitur, eine klar ablehnende Haltung einnehmen. Auch der schwarze Partner war keine brillante Idee, allenfalls den Zuhälter hätte man so besetzen können. Hinrich, der uns ja verlassen hat, war damals sehr davon überzeugt, aber wir hätten uns doch an den prognostischen Ergebnissen von ProMedia orientieren sollen, wofür haben wir diese Firma denn sonst hochgezogen.“

Er machte eine Pause. Die erste offizielle Mitteilung von Hinrichs Rausschmiss sollte wirken.

“Wir müssen im nächsten Frühjahr etwas wirklich Erfolgreiches machen, etwas, das von den Quoten her an die Anfänge von Todesarten 1-4 heranreicht. Es muss etwas sein, das mindestens sieben Zielgruppen anspricht und für den Sendeplatz 20 Uhr 30 bis 21 Uhr 10 funktioniert - bis Berger mit seinen Nachrichtenspots kommt. Drei bis vier Werbepausen à drei bis sechs Minuten, macht etwa 23 Minuten Sendezeit, da kann eine Menge passieren. - Hans-Günther, Sie kommen gleich dran. - Ich rekapituliere: Die Themen lesbische Liebe, früher Krebstod und Sex ab vierzig haben wir in diesem Herbst erledigt, für die Zwölf- bis Neunzehnjährigen und die Pensionäre läuft mittwochs und freitags Cops mit Colt, und die Frauen ab dem Klimakterium sind mit Schwester Sophie bestens versorgt. Wir brauchen etwas Allgemeines, das auch Spezialinteressen bedient, eine Serie mit einem erhöhten Wirklichkeitsgehalt. Ich denke an eine Art Doku-Soap mit einem politischen Thema.“

Anselm stöhnte.

“Das war doch schon für BBV im letzten Jahr totale Pleite. Diese Serie über den Kaufhausattentäter, Dagobert, die ging voll in die Hose.“

Der dünne Müller schaute aus dem Fenster, auf den gläsernen Turm von Global Village, und sagte leise: “An meiner Uni hat mal ein Dichter die Theorie vertreten, dass in Deutschland egal was funktioniert, wenn's nur einen Stabreim hat. Cops mit Colt, Vera's Welt, Titel Thesen Temperamente, Heil Hitler Rühmkorf hieß der Mann. Witzige Type.“

“Ich dachte, Hartmut sprach von Politik? Und Dagobert war in den Prints schon durch. Außerdem war Otto Sander die falsche Besetzung. Melancholiker gehen erst ab Mitternacht.“

Mike Bangermann kritzelte wie immer auf einem Block. Ohne den Kopf zu heben, nuschelte er: “Ich habe gestern meine Tochter aus der Grundschule abgeholt. Die haben mich gefragt, ob ich vielleicht mal mit Papier aushelfen könnte - zum Malen und zum Schreiben und so. Die Mütter bringen Handtücher hin, Toilettenpapier - und die Kopien macht ein Ingenieur, der auch im Elternbeirat ist. Die Schulen sind praktisch pleite. Ich finde, das ist ein politisches Thema. Man fragt sich doch, wieso von unseren Steuergeldern so was wie Wahlkampfkostenrückerstattung finanziert wird, während es in den Schulen zugeht wie in der Dritten Welt.“

“Darf ich auch mal was sagen?“, meldete sich der dicke Müller. “Ich war ja Weihnachten zur Fortbildung in Kalifornien. Da war der größte Schocker eine Serie über einen Ölbaron, der in der Firma seines Konkurrenten eine Gruppe bildet, die beinahe funktioniert wie früher unsere Gewerkschaften: Tariflöhne und Arbeitsschutz und Mitbestimmung, und Entlassungen praktisch unmöglich - lauter so verrückte Sachen. Lief super!“

Hartmut Gossel zündete sich ein Zigarillo an und ließ den Rauch in entspannter Souveränität aus dem Mund quellen, während er sagte: “Ich habe bereits eine Idee.“ Er lehnte sich zurück: das Zeichen für die anderen, zu schweigen, bis er wieder sprach. Er schaukelte sanft vor und zurück.

“Die Handlung ist sehr einfach. Hauptfigur ist ein dicker, wichtiger Mann. Er hat ein paar Gehilfen, die beinahe auch seine Freunde sind. Er ist mächtig, aber nicht einsam. Er hat eine Menge Geld zur Verfügung, aber Geld interessiert ihn nicht. Ihn interessiert nur die Macht. - Einige seiner Gehilfen entwickeln eigene Ideen. Mindestens einer will ihn ablösen. Drei, vier von diesen Gehilfen bereiten den Sturz des Alten vor. Dazu brauchen sie Geld. Sie starten neue Geschäfte - ein bisschen unsauber, ein bisschen unappetitlich. Es geht um Abwässer, um Luftverschmutzung, um Waffenhandel. Eine kleine Intrige hier, ein großer Steuerbetrug dort. Man kann sich aufeinander verlassen. Einer fährt immer mal wieder in die Schweiz, trifft in einem Bistro an einer Ausfallstraße einen Industriellen und bekommt Geld in einem Köfferchen. Das Geld kommt in einen Safe in einer Schweizer Bank, ein mannshohes Ding aus Stahl. Eines Tages treffen sich zwei der Gehilfen in einem Schweizer Hotel, der eine hebt die Bettdecke und sagt: ,Wir hatten heute Besuch', und auf dem Laken liegt -“

“- eine Million in gebrauchten Scheinen!“, rief der dicke Schmidt. “Mensch, die kenn ich doch, die Story!“

Alle sahen ihn an. Die Fleischfalte unter seinem Kinn zitterte vor Begeisterung. “Ja, kapiert ihr denn nicht? Das ist die Kohl-Geschichte! Der dicke Mann, die intriganten Gehilfen, das Geld unter der Bettdecke und das Geschäft mit den Waffen. Das ist das ganze Drama, mit Leisler-Kiep, mit Schäuble ... ich werde wahnsinnig!“

Überwiegend ratlose Gesichter.

“Die Herren sehen nicht gerne die Nachrichten?“, fragte Gossel. “Und lesen nicht gerne Zeitung. - Ich werde etwas nachhelfen müssen: Gegen unseren früheren Bundeskanzler, Herrn Dr. Helmut Kohl, läuft im Moment ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Parteienfinanzierungsgesetz. Parallel dazu hat der Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, in dem man herauszufinden hofft, ob die Bundesregierung käuflich ...“

“Wir sind doch nicht blöd“, knurrte Anselm.

“Aber das ist doch -“, sagte die Blonde aus dem elften Stock.

“ - Politik“, ergänzte der dünne Schmidt und grinste sie an.

“Der Tod der Unterhaltung“, sagte Ludwig Kristlein, so unbetont, als lese er vor. “Das ist doch das Credo von Kepler, wenn ich nicht irre, der Leitsatz unserer Tätigkeit, das, was wir praktisch mit unserem Blute besiegeln, wenn wir hier eintreten: Politik ist der Tod der Unterhaltung.“

“Ihr habt ja keine Ahnung“, knurrte Gossel. “Wie lange seid ihr im Geschäft? Manche gerade mal ein, zwei Jahre, und die Dienstältesten“ - hier sah er den dicken Schmidt an, Krist und Peter Ahlers - “vielleicht seit 1990.“

“Kunststück“, flüsterte Peter Ahlers seinem Nachbarn zu, “bei dem Führungsstil. Diese Drecksau ...“

Doch sein Nachbar sah ihn nicht an.

“Vielleicht zehn Jahre“, fuhr Gossel fort und verlängerte seine Pausen, “gerade lange genug, um Routine zu entwickeln, aber ohne kulturelles Gedächtnis, ohne Substanz, ohne mehr Erinnerung als an das Werbefernsehen, das ihr gesehen habt, als ihr zum ersten Mal begriffen habt, wie eine Frau unter dem Rock aussieht. - Was glaubt ihr, was es bedeutet, dass das ZDF nun ein Wiedervereinigungsdrama ausstrahlt, mit Lambert Hamel und Udo Samel? Wir haben doch alles durch - Sex in jedem Alter und jeder mit jedem, Schicksal, Fernreisen, Gewalt sowieso und jetzt auch noch behinderte Kinder. Den Alltag macht Big Brother. Was fehlt also, worauf warten die Leute, ohne es zu wissen?“

“Politik“, murmelte Mike mit gesenktem Kopf.

“Affairen, Intrigen, Schmiergeldgeschichten ...“, flüsterte die Dunkle aus dem elften Stock und sah verträumt in Gossels Richtung.

“Sind ja auch keine toten Ausländer.“

“Und kann man auf dreihundert Folgen ziehen.“

“Nee, nee“, sagte Krist, “das kaufe ich nicht. Der dicke Kanzler, und diese Mutti aus Hessen, mit ihrer Henkelhandtasche, wo sie 'ne halbe Mille Schmiergeld drin nach Hause trägt ... das ist doch total ungeil.“

“Ich find's super!“, rief der dicke Schmidt. “Das wollen die Leute sehen, das macht sie gerade an, verstehst du: diese Mutti, das könnte deine sein!“ Krist wirkte indigniert. Dirk van Becker warf die Lippen auf und strich die Handflächen gegeneinander.

“Ich sehe die Frauenrollen noch nicht“, sagte er vage und blickte aus dem Fenster, scharf an Gossel vorbei. “Diese Mutti aus Hessen und Angela Merkel, und meinethalben auch noch Juliane Weber wer soll denn so was gucken wollen?“

“Ihr habt das Ganze noch nicht begriffen“, sagte Gossel, merkwürdig entspannt. “Wir machen doch nicht dem Brennpunkt Konkurrenz. Wir müssen natürlich eine eigene Ästhetik entwickeln, einen ganz eigenen Stil, etwas zwischen Information, Entertainment und menschlichem Drama, versteht ihr Die Geschichte, die ich euch eben erzählt habe, ist ja nur teilweise bewiesen. Die Sache mit dem Koffer stimmt, die Bodensee-Episode, Waffenhandel und Steuerbetrug. 40 Millionen hat Thyssen verdient an dieser Leopard-Geschichte, und 20 Millionen sind als ,Provision' gleich in die Schweiz gewandert. 20 Millionen hat die CDU Hessen und weiß nicht woher, weil die toten Juden es nun doch nicht gewesen sind.“

“Aber das Personal“, wandte Anselm angeekelt ein. “Lütje! Weyrauch! Und hängt nicht auch das Maxerl mit drin, dieser Strauß-Sohn mit einer Visage wie ein Vierkantschlüssel?“

“Es gab eine kleine Hausdurchsuchung“, bestätigte Gossel. “Ein ehemaliger Kumpel hatte ihn angezeigt. Es muss aber wohl auch Kumpels bei der Staatsanwaltschaft gegeben haben, denn leider, leider war am Tag vor der Durchsuchung alles aus der Festplatte gelöscht worden So etwas ist arges Pech. Passiert aber immer wieder, wie die Ermittlungsbehörden bestätigen können.“

“Sechzig Millionen soll der Alte vererbt haben“, ließ sich Konrad Vigant vernehmen, ein magerer Mittdreißiger mit hellen Augen und einem gekränkten Gesichtsausdruck. “Wie kann denn ein Politiker in seinem Leben auch nur ein Zehntel der Summel legal verdient haben?“ “Und vor der Erfindung der Börse!“

“Also, ich fasse mal zusammen: Wir haben eine solide recherchierte Geschichte, die sich von selber fortschreibt: Panzergeschäfte mit Saudi-Arabien; Bestechung auf hoher, wenn nicht der allerhöchsten Ebene; Schmiergeld in kleinen, gebrauchten Scheinen; ein korrupter toter Ministerpräsident; ein verlogener im Amt; ein erpressbarer früherer Kanzler; ein Waffenschieber im Ausland und ein Exstaatssekretär auf der Flucht...“

“Und der Schalck-Golodkowski hängt bestimmt auch noch mit drin!“

Gossel sah den Zwischenrufer eisig an.

“Dafür spricht einstweilen nichts. Auch Barschel könnt ihr in der Wanne lassen. - Nein, ich sehe das Ganze als eine Geschichte im Shakespeare-Format, ein Königsdrama. Titus Andronicus... „

“Sind da nicht am Ende alle tot?“

“Aber die Dialoge...“

“Ein Untersuchungsausschuss! Das soll nun einen vom Hocker reißen!“

Gossel ließ seine Augen durch die Runde wandern. Sie saßen da wie junge Hunde - brave, hilflose Gesichter, und selbst die Verschlagenen unter ihnen waren noch tapsig in ihrer Verworfenheit. Er legte seine Dokumentenmappe aus feinstem marokkanischem Ziegenleder auf den Tisch und holte einen Stapel Papier heraus. Mit einer Stimme, aus der jeder Ausdruck getilgt war, langsam und deutlich las er vor:

“Zeuge Dr. Kohl: (...) Für mich ist es ziemlich merkwürdig, dass, Wochen bevor überhaupt nach dem Vorgang Kiep öffentlich über Parteispenden geredet wurde, im Kanzleramt das Drehbuch für diesen Ausschuss geschrieben wurde.

Unruhe.

Frank Hofmann (SPD): Herr Vorsitzender, das geht aber bitte nicht von meiner Zeit ab.

Zeuge Dr. Kohl: Ich schenke Ihnen meine Zeit.

Vorsitzender Volker Neumann: Das können Sie nicht.

Zeuge Dr. Kohl: Doch. Ich bin ja - -

Vorsitzender Volker Neumann: Sie können sich einfach kurz fassen. Zeuge Dr. Kohl: Aber, Herr Vorsitzender, ich mache doch ein großzügiges Angebot.

Vorsitzender Volker Neumann: Nein, das geht ja nicht. Herr Kohl, Sie verfügen nicht mehr über Ihre Zeit.“

Gossel lehnte sich zurück.

“Ist das nicht großartig? Ich sehe da einen müden, aber noch immer starken Mann, in seiner dicken, vernarbten Haut, erschöpft und schwer, und Stimmen stechen auf ihn ein, Lanzen werden gegen ihn geführt, er dreht sich im Kreis, er sucht sie abzuwehren Ich sehe einen Elefanten in der Arena, der von Picadores gequält wird... „

“Na, na“, hörte er den dünnen Schmidt aus weiter Entfernung höhnen.

“Ich habe die Protokolle“, sagte Gossel. “Woher, das steht hier nicht zur Debatte. Und ich sage euch: Ich hatte noch nie so gutes Material in Händen. Das ist ein Historiendrama, das noch geschrieben werden muss. Doch bis es wieder einen Shakespeare gibt, sind unsere Enkel schon in Rente. Nein, die Wahrheit ist Gold, das auf der Straße liegt, und wir, wir werden die sein, die es auflesen und aus den Splittern eine Kette machen. Nie gab es bessere Bedingungen: Der Ausschuss macht seine Arbeit. Die Resultate werden veröffentlicht. Die Dokumente und Protokolle werden wir uns besorgen. Und bevor die Öffentlichkeit noch begriffen hat, was da in Berlin eigentlich verhandelt wird, da zeigen wir es ihr, zur besten Sendezeit.“

“Ich weiß schon“, rief der dicke Schmidt, “den Untertitel: Nichts ist geiler als die Wahrheit. - Und Blut und Tränen werden fließen!“

Gossel schob die Papiere in seine Tasche zurück und erhob sich. Das hereinflutende Nachmittagslicht brachte sein silbergraues Haar zum Leuchten.

“Wir reden morgen weiter. Ich erwarte Vorschläge zum Drehbuch, zur Besetzung, zur Dramaturgie. Absolutes Stillschweigen natürlich vorausgesetzt. Wer redet, fliegt raus.“

In der Tür wandte er sich um. Sein Blick ging in die Ferne, als er in größter Ruhe deklamierte:

“Was solln wir tun? Lasst uns, die Zungen haben, /Ein Jammerspiel entwerfen diesen Elends, /dass wir ein Wunder werden künft'ger Zeit!“

Die Tür fiel zu, mit einem schmatzenden Geräusch.

“Jetzt ist er völlig durchgeknallt“, sagte fassungslos Dirk van Becker.

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