: Der Rest ist nichts
Frauenheld, Trinker, Egomane und Kartoffel: eine Auswahl von Liebesbriefen des walisischen Großdichters Dylan Thomas
VON HERIBERT HOVEN
„Meine Einzige Caitlin, mein süßer Liebling!“ So oder ähnlich überschrieb Dylan Thomas die Briefe an seine Frau. „Glaub mir, ich liebe dich auch“, schrieb er etwa zur gleichen Zeit an die Schauspielerin Ruth Wynn Owen, wenngleich er eben seiner Frau noch versichert hatte: „Ich hasse Filmleute.“ War Dylan Thomas ein ganz gewöhnlicher Lügner? Wahrscheinlich war der Poet aus Wales trotz seines froschähnlichen Aussehens ein Frauenheld, gewiss war er ein Trinker, ein Egomane, auf den sich niemand verlassen konnte, am wenigsten er selbst. Die Frauen liebten ihn wegen seiner magischen Verse („no man more magical“), die er mit expressiver Wucht der stark akademisch geprägten Dichtung um T. S. Eliot und W. H. Auden entgegenschleuderte. Die meist etwas Älteren bewunderten in ihm das haltlose Genie, dem sie Stütze sein wollten. Dylan bediente ihren Mutterinstinkt und nutzte sie, um die Wirkung seiner Wortschöpfungen zu testen: „Ich trage trotz des kalten Wetters keinen Mantel & schreite pulloverig über die schafigen Hügel“, schrieb er an seine erste Freundin Pamela Hansford Johnson.
Nahezu monologisch drehen sich die frühen Briefe fast ausschließlich um die Gewinnung eines poetologischen Standpunktes. Bizarr und dunkel umkreisen sie jene Antinomien, die den jungen Dichter umtrieben: den universellen Gegensatz von Werden und Vergehen, das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Wie in seinen Gedichten thematisiert er auch in seinen Briefen an Pamela mit selbstparodistischem Zungenschlag den Körper als Medium und Symbol unmittelbarer Selbsterfahrung: „Eines Tages werde ich mich ohne Zweifel in eine Kartoffel verwandeln. Du wirst mich dann nicht mehr mögen. Und an jenem Tag der Transformation werde ich Dich sicherlich auch nicht leiden mögen, Du gesalzene Scheibe Frühstücksspeck!“
Ein naiv und beinahe verzweifelt eingestandener Seitensprung („Ich schlief mit ihr jene Nacht und die drei folgenden. Wir waren Tag und Nacht betrunken“) beendet schließlich die Verbindung. In der Auseinandersetzung mit der surrealistischen Avantgarde, die 1936 in London eine vielbeachtete Ausstellung hatte, festigte sich Dylan Thomas’ künstlerisches Selbstverständnis. Seine Texte werden welthaltiger und fast schon prophetisch, wie ein Brief aus New York beweist: „Die Flugzeuge streifen gerade die Spitzen der großen glitzernden Wolkenkratzer, einige sind herrlich, andere höllisch. Und ich habe keine Ahnung, was ich um alles in der Welt hier in diesem sehr lauten, wahnsinnigen Zentrum des letzten wahnsinnigen irdischen Imperiums tue: außer an Dich zu denken & Dich zu lieben.“
1937 heiratete er die Tänzerin Caitlin McNamara. Weil Thomas trotz dreier Kinder das Bohemeleben keineswegs aufgab, stellte die selbstbewusste Caitlin die Beziehung immer wieder infrage. Nun wird Dylan Thomas zum Werbenden. An die im Krankenhaus Liegende schreibt er: „Ich will Dich nicht für den Tag (obwohl ich meine Zehen verkaufen würde, wenn ich Dich jetzt sehen könnte […] ein Tag ist die Lebensspanne einer Fruchtfliege; ich will Dich für all die Jahre, die ein großes, verrücktes Tier lebt, wie etwa ein Elefant.“ Die humorige Skurrilität ist erkämpft gegen die Angst, die geliebte Frau zu verlieren. Zunehmend wird Dylan Thomas von Einsamkeitsgefühlen geplagt, die er mit Alkohol zu überwinden sucht, dem er seit früher Jugend verfallen war. Ein trügerischer Tröster, wie sich bei vielen Gelegenheiten zeigt. Diese Künstlerehe war nicht nur turbulent, sondern mündete bisweilen in Gewalttätigkeit. Trotzdem erkannte Dylan Thomas mit aller Klarheit die Situation: „Du bist mein ganzes Leben. Der Rest ist nichts.“ Kurz bevor die Ehe endgültig scheitern konnte, starb Dylan Thomas, neununddreißigjährig, an den Folgen seiner Sucht, so als habe er die Wahrheit seines bekanntesten Gedichts beweisen wollen, in dem es heißt: „Though lovers be lost love shall not“, und dessen Strophen, weil er am Ende alle Frauen und auch sich selbst mit dem Alkohol betrogen hat, in den fanfarenhaften Refrain ausklingen: „And death shall have no dominion.“
„Die Liebesbriefe“ heißt die vorgelegte Auswahl aus Dylan Thomas’ umfangreichem Briefnachlass, ein etwas irreführender Titel, da das schmale Bändchen zahlreiche Briefe unterschlägt, die Thomas als Liebender geschrieben hat. Einige der hier versammelten Briefe zeigen ihn gar nicht als solchen, z. B. der an Edith Sitwell, die er nur um Geld bittet. Leider fehlen auch die Gegenbriefe der Frauen, und die kurzen Einführungen geben nur spärliche biografische Auskünfte.
So ergibt sich ein sehr lückenhaftes und einseitiges Bild, das lediglich Schlaglichter auf die Liebesbeziehungen des Dichters wirft und den Leser, wie schon die Adressatinnen, letztlich mit dem Text allein lässt. Ein alles in allem produktives Dilemma, das Dylan Thomas durchaus bekannt war, schreibt er doch an Pamela: „Ich könnte schreien, in echter, körperlicher Pein, wenn eine Zeile von mir, wie sie nackt und alleine auf dem Papier steht, als genauso unverständlich angesehen wird wie ein Knittelvers in Sanskrit.“
Dylan Thomas: „Die Liebesbriefe“. Aus dem Englischen von Margit Peterfy. Carl Hanser Verlag, München 2004, 96 Seiten, 10 Euro