■ Der Publizist Tom Segev über die Wahlen in Israel: Netanjahus Sieg wird das Land nicht fundamental verändern: „Auswandern? Nebbich. Wohin?“
taz: Peres hat die Wahl verloren. Warum?
Tom Segev: Nun, daß er verloren hat, wissen wir jetzt, Freitag morgen, noch nicht mit Sicherheit.
Setzen wir es als wahrscheinlich voraus. Hat Peres verloren, weil er im Wahlkampf rechte Positionen reklamierte, anstatt offensiv für den Friedensprozeß zu werben?
Schwer zu sagen. Diese politische Camouflage hat Netanjahu ja ebenso betrieben, indem er sich als Friedenspolitiker präsentierte. Beide haben sich als der jeweils andere verkleidet. Die Wahl ist vor allem ungemein knapp ausgefallen. Dies zeigt, daß die israelische Gesellschaft in ihrer Mitte gespalten ist: nicht nur zwischen Likud und Arbeitspartei, sondern in Fragen der Grundwerte.
Ich will Ihre Frage gar nicht umgehen. Aber ich weiß einfach nicht, ob Peres gewonnen hätte, wenn er auf Polarisierung gesetzt hätte. Den Ausschlag hat am ehesten das Fernsehduell zwischen Peres und Netanjahu gegeben. Netanjahu ist ein äußerst mediengerechter Politiker, der sich zu präsentieren versteht. Er ist eigentlich eine leere Figur. Ein Typus, den Churchill einmal so beschrieben hat: Ein leeres Auto fährt vor, und Attlee steigt aus. Das gilt genauso für Netanjahu.
Das Votum war nicht nur pro oder kontra Friedensprozeß, sondern eine Personenwahl?
Ja, zum Teil. Denn dies war ein recht amerikanischer Wahlkampf, konzentriert auf Medien und Personen. Und Peres, der seit fünfzig Jahren Politiker ist, gilt in Israel als jemand, von dem man besser keinen Gebrauchtwagen kaufen würde. Sein Image ist: intrigant, auch kulturvoll, aber ein Loser.
Wie Bob Dole?
Ja, vergleichbar. Das Wahlergebnis zeigt auch, daß der Friedensprozeß vielleicht zu schnell ging. Immerhin steht eine historische Entscheidung an. Zum erstenmal ist es möglich, das Land zwischen Israelis und Palästinensern zu teilen. Die Hälfte der Israelis sagt dazu ja, die andere nein. Jetzt sieht es so aus, als hätte nur Rabin, der stets als ehrlich galt, den Wandel zur Friedenspolitik plausibel machen können.
Wird der Friedensprozeß unter Netanjahu nun stillgelegt?
Verlangsamung ja, Stillstand nein. Das werden die USA nicht dulden. Und Netanjahu ist ein Politiker amerikanischen Typus; das Zentrum seines Denkens liegt in Washington. Außerdem braucht Clinton Frieden in Nahost.
Uri Avnery hat am letzten Samstag in der taz geschrieben, daß die Wahl zwischen Peres und Netanjahu der zwischen Frieden und Nichtfrieden gleichkommt.
Nun ja, das hat er vielleicht im Eifer des Vorwahlkampfes geschrieben. Auch der Likud ist kein hermetischer Block. Auch dort gibt es liberale Leute, zum Beispiel Dan Meridor, den früheren Justizminister. Und zum Krieg gehören zudem immer zwei.
Interessanterweise haben bei den Knessetwahlen sowohl Likud wie Arbeitspartei verloren.
Das ist ein paradoxes Resultat des neuen Wahlverfahrens, das eigentlich die kleinen Parteien schwächen sollte, sie nun aber gestärkt hat. Zum anderen kommt darin eine Tendenz zur gesellschaftlichen Partikularisierung zum Ausdruck. Früher haben die Israelis zwischen den beiden großen Warenhäusern gewählt, heute gehen sie eher in die Fachgeschäfte. Das hat auch etwas damit zu tun, daß die großen kollektiven Ideologien ihre Leuchtkraft verloren haben.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich das gesellschaftliche Ideal in Israel radikal verändert: Nicht mehr das Kollektiv steht im Zentrum, sondern das Individuum, nicht mehr Armee und Nation, sondern Konsum. Die Mythen im postzionistischen Israel verblassen. Daran war stets die Erwartung geknüpft, daß Israel friedensfähiger würde.
Bis gestern habe ich das auch gedacht...
Das heißt, daß die friedensfähige postzionistische Gesellschaft eine Illusion war?
Nein, gewiß nicht. Denn dies sind fundamentale Veränderungen, die von 0,5 Prozent mehr oder weniger nicht gestoppt werden können. Die israelische Gesellschaft ist dabei, ihre Grundwerte neu zu bestimmen – aber eben nur ein Teil der Gesellschaft. Allerdings ist dieser Teil stark genug, Rabin zu gestatten, Hitler die Hand zu schütteln. Denn Arafat galt bis vor fünf Jahren in Israel als neuer Hitler.
Der Abzug der Armee aus Gaza ist fast ohne Widerstand abgelaufen. Das war nur möglich, weil Rabin gesagt hat: Die Existenz Israels ist nicht mehr in Gefahr. Das war ein revolutionärer Gedanke. Und Rabin haben die Leute das geglaubt. Israel wird weniger nationalistisch, weniger mythologisch, es wird pluralistischer und friedlicher. Aber dieser Prozeß geschieht natürlich nicht ohne Gegenbewegungen.
In Israel tobt ein Kulturkampf, der treffend durch Tel Aviv und Jerusalem symbolisiert ist. Hier das traditionelle, orthodoxe, religiöse Jerusalem, das auf Stein gebaut ist, dort Tel Aviv, eine leichtsinnige Metropole, die auf Sand gebaut ist und in der man nicht in biblischer Vergangenheit und Zukunftsverheißungen lebt, sondern ganz und gar im Heute. Eigentlich eine amerikanische Stadt. Vor einiger Zeit fand in Jerusalem eine Anti-Friedensprozeß-Demonstration statt. Dort waren 60.000 Leute. Und zur gleichen Zeit waren in Tel Aviv 60.000 bei einem Rockkonzert. Diese Spaltung spiegelt auch der dramatisch knappe Wahlausgang wider.
Weil die Wahl so knapp ausgegangen ist, wird bereits über eine Große Koalition spekuliert. Ist dies ein brauchbarer Vorschlag?
Nein. Eine Große Koalition bedeutet politische Lähmung. Das ist, als ginge das ganze politische System vier Jahre in Urlaub. Solche Koalitionen sind nur im Ausnahmefall, im Krieg vielleicht, legitim. Aber jetzt gibt es keine nationale Krise. Das politische System funktioniert. Eine Große Koalition würde nur die gesellschaftliche Spaltung verschleiern.
Lea Rabin hat ankündigt, daß sie auf gepackten Koffern sitzt. Glauben Sie, daß der rechte Sieg in Israel eine innergesellschaftliche Polarisierung bewirken wird?
Nein. Daß Lea Rabin empört ist, ist allerdings verständlich. Netanjahu hat ein, zwei Wochen, bevor Rabin ermordet wurde auf einer Likud-Veranstaltung gesprochen, bei der Rechtsextreme auf Plakaten Rabin als SS-Offizier zeigten. Netanjahu hat diese Bilder gesehen – und er hat dazu geschwiegen. Lea Rabin war natürlich besonders entsetzt darüber, daß Yigal Amir, der Mörder ihres Mannes, zur Wahl gehen durfte. Aber auswandern? Nebbich. Wohin? Interview: Stefan Reinecke
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