: Der Pop-Patriotismus
Die schwarzrotgoldene Euphorie hat mit Nationalismus wenig zu tun und taugt nicht für höhere Ziele. Damit spiegelt sie die Brüche und Katastrophen deutscher Geschichte
Die Party ist vorbei, und sie war prima. Die Nationalelf hat ein Wir-Gefühl gestiftet, das in dieser oft verdrießlichen Republik eher selten ist. Was bleibt von der schwarzrotgoldenen Euphorie? War dies der Vorschein eines neuen Republikanismus, der, wie Daniel Bax kürzlich an dieser Stelle träumte, Migranten den Zugang zu der verriegelten deutschen Gesellschaft öffnet? (taz v. 3. 7.) Oder droht doch ein Umschlag ins Neonationale?
Für Letzteres spricht nichts. Der Party-Patriotismus dementiert – nicht zum ersten Mal, aber endgültig – ein Bild der alten bundesdeutschen Linken. In dieser Erzählung musste die Linke misstrauisch das Volk bewachen, bei dem, auch schon bei einer geringen Dosis nationaler Drogen, ein schwerer Rückfall ins Barbarische zu befürchten war. Die schwarzrotgoldene Party hat gezeigt, dass diese Erzählung selbst Geschichte geworden ist.
Dass Tausende wie selbstverständlich die Nationalhymne singen, hat viel mit Pop und nichts mit historischem Revisionismus zu tun. Wer sich eine schwarzrotgoldene Perücke aufsetzt, will keine chauvinistische Geste – und will auch nicht das Dokumentationszentrum des Holocaust-Mahnmals schließen. Allerdings verdeutlicht der selbstverständliche Gebrauch schwarzrotgoldener Utensilien, wie weit die Historisierung und Entdramatisierung der NS-Zeit fortgeschritten ist. Sie ist, in einer doppelten Bewegung, ferner und näher gerückt. Diese Republik hat sie, symbolisiert im Holocaust-Mahnmal, in ihr Selbstbild integriert. Damit hat die Nazi-Zeit als Kampfarena ausgedient, in der die Frage verhandelt wurde, wer ein guter Deutscher ist. Der Streit um die deutsche Schuld ist entschieden – und damit nicht mehr der Kristallisationskern der Selbstverständigungen dieser Gesellschaft.
Bei dem deutschen Pop-Patriotismus ist also leicht zu erkennen, was er nicht ist. Sein positives Ziel hingegen ist schon schwieriger zu beschreiben. Der Pop-Patriotismus hat etwas Flüchtiges, Stimmungsabhängiges. Ja, dieser Inszenierung fehlt fast alles, was Patriotismus in Ländern wie Frankreich, England oder den USA ausmacht. Dort tritt das Patriotische als Ritual in Erscheinung. Es ist ein fixierter Code, auf den sich Linke und Rechte berufen – hierzulande hingegen handelt es sich um eine spontane Erscheinung. Dort ist Patriotismus ein historisch gewachsenes und gehärtetes Bewusstsein, das weitgehend unabhängig von Treffern in den 119. Minute existiert. Hierzulande scheint Patriotismus als Mode zu funktionieren: Er kommt und geht. Ihn zeichnet noch nicht mal ein fixer Dresscode aus. Ästhetisch scheint alles erlaubt zu sein – auch bizarre Formen wie die schwarzrotgoldenen Ohrringpuschel von Karin Stoiber.
Dass der deutsche Patriotismus so verspielt, unstet und luftig wirkt, hat Gründe, die weit zurückreichen, bis lange vor 1933. In den USA und Frankreich zählt Patriotismus zur politischen Grundausstattung. Er fußt auf der historischen Verbindung von Nation und Freiheitsversprechen. Seine Gründungslegenden sind vorzeigbare, siegreich beendete Revolutionen oder Unabhängigkeitskriege, die an universelle Werte gekoppelt waren. In Deutschland hingegen war es mit der Verbindung von Universalismus und Nation nicht weit her. Die Denker der deutschen Nation im frühen 19. Jahrhundert, Fichte, Arndt oder Jahn, verknüpften die Idee der Nation weniger mit Bürger- und Menschenrechten als mit der hypertrophen Idee, dass die Deutschen die Menschheit erlösen könnten. Das Nationale hatte in Deutschland, zumal in den antinapoleonischen Kriegen, etwas Enges, völkisch Selbstbezogenes und einen gegenaufklärerischen Ton. 1848 scheiterte die demokratisch-nationale Revolution. Es folgte die trostlose Einfügung des demokratischen Bürgertums in Bismarcks mit Blut und Eisen errichteten Obrigkeitsstaat. Einheit und Freiheit, Demokratie und Nation fielen, anders als in Frankreich und den USA, auseinander. Dieses fortwährende Desaster des deutschen Nationalstaates ist erst seit 1990 dauerhaft gelöst. Erst seitdem existiert Deutschland als stabiler, einheitlicher, demokratisch verfasster Nationalstaat, frei von Revanchismus und in allseits akzeptierten Grenzen.
Ein Franzose, der mit der Trikolore winkt, bekennt sich, mehr oder weniger bewusst, zu der nationalen Gründungslegende, zu 1789, und zur Erklärung der Menschenrechte. Zu welcher Geschichte sich die Massen bekennen, die schwarzrotgoldene Fahnen schwenken, ist hingegen nicht so leicht zu sagen. 1848 waren dies die Farben der niedergeschlagenen Revolution, später war es die Flagge der gescheiterten Weimarer Republik, die in die Katastrophe führte. Der deutsche Fußballpatriot steht mit seiner schwarzrotgoldenen Perücke historisch auf schwankendem Grund. Die Geschichte des hiesigen Patriotismus ist eine, in der sich Hybris und Niederlagen abwechselten. Die helleren Seiten deutscher Geschichte – etwa der demokratische Föderalismus oder das städtische Selbstbewusstsein, das in den freien Städten des Mittelalters wurzelt – sind viel älter als der Nationalstaat. Es sind lebendige, zivile Traditionsbestände – die allerdings weder fahnen- noch stadiontauglich sind.
Der deutsche Patriotismus hat nicht nur wegen der NS-Zeit etwas Brüchiges. Vielleicht ist der deutsche WM-Patriot 2006 deshalb eine unverbindliche Erscheinung. Wir können uns ihn als einen heiteren und eher unzuverlässigen Zeitgenossen vorstellen. Er hat auf der Fanmeile mit Inbrunst die Nationalhymne gesungen. Aber die Idee, dass fortan jeden Morgen in der Schule die Hymne gesungen werden soll, ist ihm fremd. Er ist gewissermaßen Patriot nach Tagesform, der, nachdem die Fahne eingerollt ist, wieder Bayer oder Hamburger, EU- oder Weltbürger ist. Diese Haltung ist, in einem Staat, in dem zwei Drittel der Gesetze aus Brüssel übernommen werden, bemerkenswert realitätstauglich.
Die Pointe der Geschichte könnte sein, dass gerade aus der katastrophalen Historie des deutschen Nationalstaates Erfreuliches gewachsen ist. Gerade das Bewusstsein, wie defizitär diese Geschichte ist, nimmt dem bundesrepublikanischen Patriotismus das Martialische. Gerade das Gebrochene, Zwiespältige, der Mangel an durch Tradition verbürgter Selbstgewissheit und kollektiv akzeptierten Ritualen immunisieren ihn gegen krachende Überlegenheitsgesten und donnernden Stolz auf das Militär, das in Frankreich oder den USA selbstverständlich ist.
Der bundesrepublikanische Patriotismus ist postnational. Er zählt nicht länger zum Besitzstand der Konservativen. Von dem trüben rechten Nationalismus ist er so weit entfernt wie, sagen wir, der schwäbische-kalifornische Motivationscoach Jürgen Klinsmann von Sepp Herberger. Dass er zu einem migrantenfreundlichen Republikanismus beitragen wird, ist auch unwahrscheinlich. Er scheint für Verstetigungen und Indienstnahmen aller Art untauglich zu sein. Der bundesrepublikanische Patriotismus ist offen, situativ und für höhere Werte unbrauchbar. Kein schlechtes Ergebnis. STEFAN REINECKE