■ Der Kampf um die Erinnerung wird härter
: Der Papierkrieg der Nachgeborenen

„Ich kann mich an nichts erinnern.“ Diese Formel geriet in den letzten Jahren eigentlich zur Kennung unserer amnesischen politischen Kultur. Die ganzen Weltenlenker, die an den entscheidenden Knotenpunkten eigener Erinnerung vor Parlaments- und Untersuchungsausschüssen immer nur „Blackout“ murmeln und verlegen in Terminkalendern blättern, glauben seit einigen Monaten, an die epochalen Knotenpunkte deutscher und europäischer Geschichte erinnern zu dürfen. Das ist im Grunde folgerichtig. Denn die ritualisierte Erinnerung wehrt die intensivere, tiefgreifende meist nur ab. Erinnerungskultur wie gehabt, könnte man den bisherigen offiziösen Erinnerungsmarathon achselzuckend bilanzieren. Wäre da nicht das Berliner Holocaust- Mahnmal. Nun wird bei dieser Auseinandersetzung zwar wenigstens noch gestritten, doch ist gerade dieses Denkmal ebenfalls Symptom für einen viel generelleren Gedächtnisschwund.

Folgt man dem Heidelberger Ägyptologen und Erinnerungsforscher Jan Assmann, leben wir gleichsam in den Endmoränen einer auslaufenden Erinnerungskultur. Zwischen 80 und 100 Jahre setzt er den Zeitraum an, in dem aus der kommunikativen Erinnerung die kulturelle wird. In der ersten können Zeitzeugen einer Epoche noch berichten, wie und was wirklich gewesen ist. Danach ist man auf Dokumente, Denkmäler oder Riten angewiesen. Spätestens in der Halbzeit fängt es in der Erinnerungskultur an zu knirschen. Richard von Weizsäckers Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985, vierzig Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus, der sogenannte Historikerstreit 1986 markieren demnach den Scheitelpunkt dieser unausweichlichen Entwicklung. Wo die Zeitzeugen dahinsterben, sollen mehr und mehr geschriebene Erinnerung, Orte, Male und Archive an Erinnerung retten, was noch eben zu retten ist.

Wenn nicht alles täuscht, steuern wir in die zweite Halbzeit der kalten Erinnerung. Das beweist gerade der Mahnmalboom der letzten Jahre. Selbst wenn der Spiegel im Mai eine neue „Lust an der Erinnerung“ entdeckt haben will. Der Boom an Ausstellungen zum Jahre 1945 ist vor allem ein Papierboom. Außerdem bleibt eine Frage: Ist nicht das unterschwellige Bedürfnis nach Entlastung mindestens genauso groß wie dieser Erinnerungsboom? Entlastung schwingt natürlich auch bei der Denkmalsdebatte mit: Ablaßhandel.

Der gleichsam „natürliche“ Wandel der Erinnerungskultur begünstigt die bewußte Einebnung der Erinnerung. Der Streit um die Auschwitz-Leugnung ist seit langem neu aufgeflammt. Das Relativierungsgerede nicht nur der italienischen Neofaschisten tröpfelt ins Alltagsbewußtsein einer historisch voraussetzungslosen Jugend. Nicht nur französische Historikerschule, sondern auch deutsche Touristikzentralen im Ausland suchen unermüdlich „wissenschaftlich“ zu beweisen, daß es keine Judenvergasung gab. Auch in diese nebulöse Bewußtseinslage stieß der Aufruf der neu- und altrechten Koalition zum 8. Mai, der die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Mord an den Juden und der Vertreibung nach dem Krieg faktisch auflöst.

Derweil sucht die dritte israelische Generation das Ritual um die Identitätsreliquie Holocaust zu enttabuisieren. Und ohne nun die fremdenfeindliche Gewalt von Neonazis ihrerseits zu relativieren: Etwas von diesem Versuch symbolischer Enttabuisierung steckt auch in den Ausschreitungen vieler Junger in Deutschlands Osten. Die derzeitige Erinnerungskultur soll ins Wanken geraten. Und der Bannstrahl des Totalitarismus, der SED und Nazis in der deutsch- deutschen Erinnerungsdiskussion nun gleichermaßen bestreicht, soll identifizierende statt differenzierende Erinnerung festschreiben.

Die zersplittert dabei weiter. Jede Gruppe der Holocaust-Opfer definiert sich inzwischen nur noch über ihr eigenes Denkmal.

Unliebsame Erinnerungssplitter, wie bei dem Streit um den 20. Juli 1944 und den Widerstand der Kommunisten im letzten Jahr, werden gezogen. Selbst wenn noch ein paar nicht rechtzeitig entschärfte Erinnerungszeitbomben zünden – immer weniger Menschen werden gegen überzeugend collagierte Papierlügen aufstehen und Zeugnis ablegen können mit dem beweisenden Wort: Ich habe gelitten. Die Behauptung der Erinnerung wandelt sich langsam zum ungleich schwierigeren Papierkrieg der Nachgeborenen.

Die Politik lockert das abschüssige Glacis ohne Not weiter. Langsam rächt sich das Kohlsche Erinnerungsappeasement. Um des lieben Erinnerungsfriedens willen installiert sie einerseits Bilder diffuser Erinnerung, wie die Neue Wache in Berlin, und arbeitet mit semantischen Zugeständnissen. Bei der Eröffnung seines Bonner Hauses der Geschichte arbeitete der Kanzler als Biedermann der Erinnerung mit dem unglaublichen, längst wieder vergessenen Wort von der „gemeinsamen Trauer“, der „gemeinsamen Erinnerung“ den harten Revisionisten in die Hände. Der Tag scheint nicht fern, wo die Opfer die Täter betrauern. Seinen Stahlhelmfreund Dregger ließ der Kanzler den Auftritt auf dem Münchener Revisionistentreffen absagen, den Veranstaltern echote er jedoch in gleicher Tonlage mit der Geißelung des linken „Erinnerungsverbots“ hinterher.

„Gegen das Vergessen“ gegen „gegen das Vergessen“. Ob die Namensgleichheit des verfassungspatriotischen Vereins und der neurechten und keineswegs nur ewiggestrigen Sammlungsbewegung zufällig ist oder nicht: Daß es seinen Initiatoren um mehr als ein paar akademische Beiträge zur Vertriebenenforschung geht, darf man wohl vermuten. Der so auffällig gleiche Titel scheidet zwei Frontlinien der Erinnerung, markiert eine Zäsur und einen Kulturkampf. Der Kampf um die Erinnerung wird härter. Unter dem Vorwand vernachlässigter Erinnerungslücken soll die Nachkriegszeit samt ihrer Erinnerungskultur beendet werden. Eine Relativierungsabsicht der unausgesprochenen Art. Fast noch beängstigender die blauäugige Analytik, mit der man sich mit ihr auseinandersetzt.

Mehr und mehr steht neben der Frage nach der Substanz der offiziellen Erinnerungstage die nach der angemessenen Kunst des Gedenkens im Raum. Die Berliner Mahnmaldebatte beweist: Während die Frage nach neuen, dauerhaften Formen wahrhaftiger Erinnerung ungelöst schwelt, stehen der geschrumpften und verunsicherten linken und liberalen Öffentlichkeit im zweiten Teil der Erinnerungsdekade mehr erinnerungsdurchschlagendes Stahlgewitter bevor, als manchem Castorf lieb sein dürfte. Dabei hat sie mit selbstgeschaffenen Erinnerungsproblemen zu kämpfen. Gegen das, was kommt, wirkt der Historikerstreit schon fast wie eine erfrischende intellektuelle Dusche. Auch so ein Erinnerungstitel. Das Bändchen aus der Serie Piper, in dem die Kontroverse abgedruckt ist, kann man bereits im Bonner Haus der Geschichte unter einem Glassturz sehen. Kann sich jemand noch an Einzelheiten erinnern? Ingo Arend

Journalist in Bonn