: Der Name Berlin
Der Text über die Mauer, die weniger als eine Grenze ist und zugleich viel mehr als das, datiert aus dem Jahre 1964 ■ Von Maurice Blanchot
Für alle ist Berlin das Problem der Teilung. Aus einem Blickwinkel ist es ein rein politisches Problem, wobei wir uns im klaren darüber sein müssen, daß es rein politische Lösungen gibt. Aus einem anderen Blickwinkel ist es ein soziales und ökonomisches (und daher, aber in einem weiteren Sinne, politisches) Problem, weil hier zwei Systeme und zwei sozioökonomische Strukturen einander gegenüberstehen. Aus einem noch anderen Blickwinkel ist es ein metaphysisches Problem: Berlin ist nicht nur Berlin, sondern das Symbol der Teilung der Welt und noch etwas mehr: ein „Punkt im Universum“, der Ort, an dem sich die Reflexion über eine Einheit, die beides ist, nämlich notwendig und unmöglich, vollzieht bei allen, die dort wohnen und die, weil sie dort wohnen, nicht nur die Erfahrung eines Wohnortes machen, sondern auch die einer Abwesenheit dieses Ortes. Und das ist noch nicht alles. Berlin ist kein Symbol, sondern eine reale Stadt, wo man menschliche Dramen erlebt, die andere große Städte nicht kennen: Die Teilung hat hier den Namen Zerrissenheit. Und das ist noch nicht alles. Berlin stellt in ungewöhnlichen Begriffen das Problem der zwei Kulturen, die in ein und demselben kulturellen Gefüge einander entgegengesetzt sind, zweier Sprachen ohne jede Beziehung innerhalb einer identischen Sprache; es stellt also die intellektuelle Gewißheit und die Möglichkeit einer Kommunikation in Frage, worin Menschen, die miteinander umgehen aufgrund der Tatsache, daß sie die gleiche Sprache und die gleiche historische Vergangenheit teilen, übereinkommen. Und das ist noch nicht alles.
Das Problem Berlin behandeln oder befragen wie ein Problem der Teilung kann auch nicht in der möglichst vollständigen Aufzählung der verschiedenen Formen, in denen es uns zu fassen gegeben ist, bestehen. Was das Problem der Teilung angeht, so muß man sagen, daß Berlin ein unteilbares Problem ist. An dem Punkte, wo wir vorläufig - und sei es nur um der einfachen Klarheit der Ausführung willen - diese oder jene besondere Gegebenheit der Situation „Berlin“ isolieren, laufen wir Gefahr, nicht nur die Frage in ihrer Gesamtheit zu verfälschen, sondern genau diese besondere Gegebenheit, daß man sie einfach nicht fassen kann, außer man betrachtet sie an sich.
Das Problem der Teilung - des Bruchs -, so wie es Berlin stellt, und zwar nicht nur den Berlinern, nicht nur den Deutschen, sondern jedem denkenden Wesen - und zwar auf gebieterische, ich möchte sagen: schmerzliche Art und Weise
-ist, glaube ich, ein Problem, das wir in seiner ganzen Realität nur adäquat formulieren können, wenn wir uns entschließen, es fragmentarisch zu formulieren (was nicht partiell bedeutet). Mit anderen Worten: Jedesmal, wenn wir es mit einem Problem dieser Art zu tun haben (und es gibt mehr solcher Probleme), müssen wir uns daran erinnern, daß in angemessener Weise darüber zu sprechen heißt, darüber so zu sprechen, daß wir auch die tiefe Lücke in unseren Worten und in unserem Denken sprechen lassen, so also, daß wir die Unmöglichkeit sprechen lassen, die wir haben, wenn wir in Begriffen reden, die vorgeben, erschöpfend zu sein. Das bedeutet 1. daß die Allwissenheit, auch wenn sie möglich wäre, in diesem Falle nichts wert ist: einem Gott, der alles wüßte, würde doch das Wesentliche einer Situation wie dieser entgehen; 2. daß es im allgemeinen nicht möglich ist, mit einem einzigen Blick das Problem der Teilung zu übersehen, in den Griff zu bekommen, zu erfassen, und daß in diesem Falle, wie in anderen, der Panoramablick jedenfalls nicht der richtige ist; 3. daß die bewußte Entscheidung für das Fragment nicht skeptisches Zurückweichen vor einer vollständigen Synthese ist oder müder Verzicht auf sie (sie könnte dies sein), sondern eine ungedulig-geduldige, starr -flexible Untersuchungsmethode und - darüber hinaus - die Behauptung, daß der Sinn, der volle Sinn, sich nicht unmittelbar in uns und in dem, was wir schreiben, finden kann, sondern daß er ein noch kommender ist und daß wir, wenn wir nach dem Sinn fragen, ihn als etwas nehmen, das ein reines Werden und fragendes Geschehen ist; 4. was schließlich bedeutet, daß man sich wiederholen muß. Jedes Satzfragment, jede fragmentarische Reflexion erfordert eine unendliche Wiederholung und eine unendliche Vielheit.
Ich werde zwei (fragmentarische) Beobachtungen anfügen. Die erzwungene politische Abstraktion, die Berlin darstellt, hat ihren stärksten Ausdruck an dem Tage gefunden, an dem die Mauer gebaut wurde, die schlechthin etwas dramatisch Konkretes ist. Bis zum 13.August 1961 gab die Abwesenheit eines Zeichens der sichtbaren Trennung - auch wenn eine Reihe von regulären und irregulären Kontrollen das rätselhafte Näherkommen einer Demarkationslinie spüren ließ
-der Teilung einen zwiespältigen Charakter und eine zwiespältige Bedeutung: Was war sie? Eine Grenze? Sicher aber auch etwas anderes; weniger als eine Grenze, da man sie jeden Tag überschreiten und sich der Kontrolle entziehen konnte; aber auch viel mehr als eine Grenze, denn sie zu überschreiten hieß noch nicht, von einem Land ins andere, von einer Sprache in die andere zu gehen, sondern im gleichen Land und in der gleichen Sprache von der „Wahrheit“ in den „Irrtum“, vom „Schlechten“ zum „Guten“, vom „Leben“ zum „Tode“ zu gehen und sich so, quasi ohne es zu wissen, einer radikalen Metamorphose zu unterziehen (ohne daß man sich gleichwohl auf etwas anderes als eine teilhafte Reflexion hätte stürzen können, um zu entscheiden, wo eigentlich dieses „Gute“ und dieses „Schlechte“, die so brutal entgegengesetzt worden sind, zu situieren wäre). Der quasi augenblickliche Bau der Mauer hat an die Stelle der noch unentschiedenen Zwiespältigkeit die Gewalt der entschiedenen Trennung gesetzt. Außerhalb Deutschlands hat man sich mehr oder weniger intensiv, mehr oder weniger oberflächlich Klarheit darüber verschafft, welche dramatischen Veränderungen nicht nur in den menschlichen Beziehungen, sondern auch auf wirtschaftlicher und politischer Ebene in diesem Ereignis angelegt waren. Aber etwas ist, glaube ich, vielleicht auch vielen Deutschen entgangen: die Tatsache, daß die Realität jener Mauer bestimmt war, die Einheit einer großen pulsierenden Stadt in dieAbstraktion zu stürzen, einer Stadt, die in Wirklichkeit - darin besteht sogar ihre tiefere Realität weder eine einzige Stadt noch zwei Städte, weder die Hauptstadt eines Landes noch nur irgendeine wichtige Stadt, weder das Zentrum noch etwas anderes als dieses abwesende Zentrum war und ist; jetzt hat es die Mauer verstanden, abstrakt die Teilung zu konkretisieren, sie sichtbar und greifbar zu machen und uns daher zu zwingen, Berlin, in ein und demselben Namen, nicht mehr unter dem Zeichen der verlorenen Einheit zu denken, sondern unter dem der soziologischen Realität von zwei Städten, die durchaus verschieden sind.1 Der „Skandal“ und die Bedeutung der Mauer ist, daß sie in der konkreten Unterdrückung, die sie repräsentiert, selbst im wesentlichen abstrakt ist und daß sie uns so an das erinnert, was wir dauernd vergessen: daß die Abtsraktion nicht einfach eine Art und Weise ist, ungenau zu denken, oder eine sichtlich verarmte Form der Sprache ist, sondern daß die Abstraktion unsere Welt ist, in der wir Tag für Tag leben und denken.
Die französische Originalfassung von „Le nom de Berlin“ ist verschollen. Der Berliner Merve-Verlag fand eine italienische Fassung in 'Il Menabo‘ (Turin 1964) und publizierte 1983 in einem limitierten Sonderdruck eine deutsch-französische Fassung, die auch in der vom Verlag herausgegebenen Zeitschrift 'Dry - ein Magazin‘ erschien. Wir drucken die von Isolde Eckle aus dem Italienischen übersetzte Fassung leicht gekürzt und danken dem Merve -Verlag für die Erlaubnis.
1 Die Mauer hat vorgegeben, die tiefere Wahrheit, die man aber sehr vereinfachend - Dialektik dieser Situation nennen könnte, durch die soziologische Wahrheit einer Situation, ihren faktischen Zustand, zu ersetzen.
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