■ Der Multikulturalismus mobilisiert Ängste vor einem Identitätsverlust und bietet eine verheißungsvolle Perspektive: Auf dem Weg zu einem neuen Diskurs
Im neunzehnten Jahrhundert waren die Schweiz mit ihren drei Kulturen unterschiedlicher Sprache und die Vereinigten Staaten mit ihrem freien Zusammenleben verschiedener religiöser Richtungen die einzigen Vorkämpfer des Multikulturalismus in der demokratischen Welt. Sie bildeten auch die Ausnahmen von der Regel. Die Demokratie, wie sie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges vorherrschte, wies jeden Gedanken an ein multikulturelles Engagement entschieden zurück. Sie basierte auf der Ineinssetzung von Demos und Ethnos.
Die vorherrschende Einheit der politischen Geographie Europas, der Nationalstaat als Vereinigung von Demos und Ethnos, läßt sich nur verstehen vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs zuvor bestehender universalistischer Ordnungen oder der Versuche, solche Ordnungen zu schaffen. Die erste derartige Welle war der Protestantismus, der das Hinscheiden der ordo sacra et universalis des Katholizismus bezeichnete. Die zweite kurze Welle kam mit der französischen Revolution und ihrem Versprechen, das Erbe der Aufklärung zu verallgemeinern. Die dritte Welle, das kommunistische Experiment zur Herausbildung eines neuen politischen Universalismus, gründete sich auf die Verheißung der Klassenemanzipation und die Utopie der vollständigen sozialen Homogenisierung. Ihr Ergebnis war die Wiedererrichtung des abgestorbenen Romanow-Imperiums mit einer riesigen abhängigen Peripherie anstelle der Erschaffung einer „proletarischen Weltrepublik“. Diese Welle hat sich soeben vor unseren Augen verlaufen.
Der Aufschwung des Nationalismus in ihrem Gefolge mag eine sehr unwillkommene Begleiterscheinung der großen Veränderung sein, aber der Verlauf der Ereignisse folgt einem historisch wohlbekannten Muster.
Die Entstehung eines „Nationalbewußtseins“, eine Reaktion auf den Zusammenbruch einer universalistischen Ordnung, eines universalistischen Experiments, ruft eins ins Gedächtnis zurück: Eine vollständige Trennung von Ethnos und Demos hat bisher fast niemals funktioniert, zumindest nicht bei menschlichen Gemeinschaften, die über eine ununterbrochene und gut geschützte Erinnerung und eine Identität verfügen. Eine neue Substanz als Ersatz für die alte christliche war immer ein Gegenstand der Suche.
Die Kultur als Substanz der Nation und als zweite Natur
Aber welche Substanz hätte die Nation zu bieten? Besonders häufig wurde der schwer faßbare Begriff der „Kultur“ zu dieser neuen Substanz erhoben. Kultur als nationale Substanz impliziert den Gedanken einer künstlichen Selbstschöpfung, im Gegensatz zur „natürlichen“ Zeugung. Insofern eine besondere Kultur unsere nationale Substanz ist, sind wir nicht länger mystischen Ursprüngen verhaftet; wir können auf Kunstwerke verweisen, auf Sitten, Erzählungen und Insignien, die unsere Phantasie und unsere charakteristischen Handlungen, unser ganzes Sein geprägt haben. Gleichzeitig wird Kultur zur „zweiten Natur“; man erkennt die „natürlichen“ Zeichen der nationalen Identität einer anderen Person und entdeckt hierdurch die „Substanz“ des anderen. Kultur, die vom Fremden angeeignet werden kann und zugleich „instinktiv“ in uns wirkt, ist gleichermaßen künstlich wie natürlich. „Kultur“ wurde zusammen mit der „Zivilisation“ erfunden, und während die Zivilisation in Dingen und Regeln verwurzelt ist, gründet sich die Kultur auf die Sprache; Sprache ist Natur (Substanz) und Kunstwerk (Funktion) zugleich. Während der Umgang mit Dingen und das Befolgen von Regeln zumindest im Prinzip allgemein verbreitet ist, beschränkt sich die vollständige Beherrschung der Sprache und die Teilnahme an ihrem „Leben“ auf eine bestimmte Gruppe. Deshalb ist der linguistische Assimilationismus vom Nationalismus nicht zu trennen. Historizismus und Nationalismus gehören ihrem Wesen nach zusammen. Die Erinnerung ist laut Definition nicht grenzenlos; sie wird beschränkt durch Raum und Zeit; die kollektive Erinnerung jedoch wird bewußt als begrenzt konditioniert. Es wird von einem Menschen erwartet, daß man sich an die kollektiven Erzählungen der eigenen „Gemeinschaft“ erinnert und nicht an die anderer – daher der bemühte Egozentrismus der nationalen Erinnerung. Wenn wir uns keiner anderen Geschichte erinnern können als unserer kollektiven, wird unsere Verbindung zu der einen und einzigen Vergangenheit, die wir kollektiv besitzen, so untrennbar wie unsere Bindung an unsere persönliche Vergangenheit mittels der Erinnerung.
Die Opfer der Identifikation von Kultur und Nation
All diesen Aspekten der Kultur als nationaler Substanz ist die Formel zu eigen: Nation gleich Kultur – eine unvermeidliche Gleichung angesichts der Aufgaben, die der „Kultur“ als Substanz der neuen kollektiven Identität zugewiesen werden. Aber gegen diese fest verwurzelte Tradition der Identifikation von Kultur mit Nation ziehen Bewegungen ins Feld, die den „Multikulturalismus“ als ihr Recht innerhalb einer nationalen Gemeinschaft beanspruchen und jetzt an die Öffentlichkeit treten. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen und streben verschiedene Ziele an. Als erste einer langen Reihe fordern ihre Rechte die überlebenden Opfer der heimischen als auch die Erben der externen Kolonisation und der Sklaverei in einer libertären Zivilisation (eingeborene Indianer in Nord- und Südamerika, Schwarze, Abkömmlinge früherer Sklaven und kolonialer Eingeborener in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien). Eine besondere Gruppe bildet die religiöse jüdische Gemeinschaft. Ihr Beispiel macht deutlich, warum die Anerkennung der religiösen Freiheit nicht notwendig mit Multikulturalismus identisch ist: die Juden hatten in mehreren Ländern die religiöse Freiheit zu einem Zeitpunkt erreicht, als sie noch keineswegs in ihrer kulturellen Besonderheit anerkannt waren, als Ethnos mit einer besonderen Religion. Als dritte – diesmal strikt innerhalb des historischen Europa – melden sich zu Wort die (baskischen, katalonischen, walisischen, schottischen, bayrischen, lombardischen, bretonischen etc.) Opfer einer exzessiven Zentralisierung, zuerst durch den absolutistischen, sodann durch den Nationlstaat. Es war eine gefährliche Verkürzung unserer europäsichen historischen Perspektive, die Einheit und Homogenität des Nationalstaats als gottgegebene Selbstverständlichkeit zu betrachten. Tatsächlich hat die nationale Homogenität in ihrer bekannten Form eine sehr kurze Geschichte, und einige der besonders brutalen Bemühungen um die Schaffung einer solchen Homogenität sind noch im Gedächtnis der Lebenden verzeichnet. Schließlich gibt es noch die Gruppe der „Ortsansässigen“ (zeitweilig oder auf Dauer). Bei ihnen liegen sowohl die „kulturelle Differenz“ als auch die Absicht, diese Differenz für die Dauer des Aufenthalts – normalerweise die Lebensdauer einer Generation – aufrechtzuerhalten, auf der Hand.
Vom universalistischen über den fragmentierten zum neuen globalen Diskurs
Es ist daher kein Wunder, daß westliche Männer und Frauen, die ihre Welt noch gestern als endgültig geordnet ansahen, nun von einer Angst erfaßt werden, die komplexer ist als die europäischen Ängste um europäische Arbeitsplätze. In der Akzeptanz des Multikulturalismus, in der Aufgabe der Idee und Praxis einer vorherrschenden Sprache erschreckt sie die Drohung eines Identitätsverlusts. Ihr Alptraum lautet, von Barbaren innerhalb der eigenen Mauern übermannt zu werden. Aber obgleich diese Ängste nicht völlig unbegründet sind, gibt es doch eine Tatsache wie auch eine verheißungsvolle Perspektive, mit der sich westliche Vertreter der Assimilation auseinandersetzen sollten. Tatsache ist, daß der monolithische Charakter der westlichen Nationalkultur ohnehin seit einiger Zeit ausgehöhlt wird. Die Zeit der Post-Moderne, in der wir leben, zeichnet sich aus durch die Fragmentierung eines einstmals mit Gewalt homogenisierten universalistischen, humanistischen und rationalistischen Diskurses – das Ergebnis sind Mikro-Diskurse. Zum guten oder schlechten verfügt jetzt jede (politische, kulturelle, geschlechtliche und rassische) Besonderheit zunehmend über einen eigenen Mikro-Diskurs, während das, was der Westen traditionell als „Kultur“ bezeichnete, von der Universalität des Diskurses lebte – daraus entstanden ihr Kanon, ihre Normen und universalen Werte. Die in diesem Wandel angelegten Gefahren sind von enormer Größe; aber gleichzeitig birgt die Sitation auch ein gleichermaßen enormes Potential: die Perspektive der möglichen Herausbildung eines neuen globalen Diskurses, in dem jede Besonderheit ihre Partner und Gleichgesinnten in einem anderen, geographisch vielleicht weit entfernten Diskurs finden kann.
Die westliche Modernität steht heute an einem Kreuzweg. Sie muß viele ihrer traditionellen Methoden – darunter auch die Homogenität und den Monozentrismus der Nationalkultur – überdenken, auf das Risiko hin, ihre Identität als freie Gesellschaft zu verlieren. Sie kann auf diesen Prozeß der Selbstöffnung einige bescheidene, aber realistische Hoffnungen setzen. Sie steht aber auch vor der Gefahr der Invasion und Erosion. Unsere Welt kennt keine Garantien. Agnes Heller
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