: Der Mode Schwert
Angenehm gediegen: Wulf Segebrechts Kanon der deutschen Lyrik
Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen. Das letzte Update vom „Neuen Conrady“ ist noch nicht mal fünf Jahre alt, da legt der Fischer Verlag einen wuchtigen Lyrikziegel nach. Wulf Segebrecht, Bamberger Emeritus, aber offenbar noch nicht auf Ruhestand gestimmt, hat gesichtet, gesammelt, revidiert und schließlich auf satten siebenhundert Seiten einen weiteren Kanon der deutschen Lyrik vom Beginn der Verschriftlichung bis heute zusammengestellt. Das sollte tatsächlich ab und an mal gemacht werden. Und einer muss es ja machen.
In der Regel differieren diese Langstreckenanthologien allenfalls auf den letzten Metern. Die Textauswahl aus dem just vergangenen Vierteljahrhundert bringt den gewollten Distinktionsgewinn. Das Zeug davor ist eh meist abgenickt und schon mehrfach für die nun folgenden zwei, drei Ewigkeiten dokumentiert. Um das Zetern über den Zieleinlauf vorweg zu nehmen, sei hier direkt moniert, dass neben Albert Ostermaier, Steffen Jacobs und Jan Wagner vielleicht auch eine Hand voll anderer LyrikerInnen in ihren späten Dreißigern weiterhin nachweltwürdig den Griffel schwingen. An dieser Grenze aber scheiden sich die Geister, und Anthologisten geistern ohnehin eher jenseits denn diesseits.
Wohlwollend hingegen wollen wir bemerken, dass dieser Klotz auf noch und noch so neuerliche Korrektschreibregeln pfeift, stattdessen jedes einzelne Gedicht in der Fassung des Erstdrucks präsentiert. Das bringt uns wieder einmal auf gegen alles Bürokratenhandeln, beruhigt uns aber zugleich angesichts des Beständigen im Wandel einer stets individuellen Diktion. Schön zu lesen, dass Brecht nun wieder über seinem „chinesischen Theewurzellöwen“ meditiert und Schillers Zauber wieder binden, „was der Mode Schwerd getheilt“.
Sonst aber fällt man selber unweigerlich ins Sichten, Lesen, Zählen: Wer ist drin, und wenn ja, mit wievielen? Nur jeweils ein Text von Priessnitz und Czernin? Schändlich. Je zweimal Artmann und Pastior. Dagegen sechs Gedichte von Erich Fried auf über sieben kostbaren Druckseiten? Das ist unfassbar. Unfassbar schändlich. Doch derlei Einwände ließen sich so gut wie gegen jeden Kanon vorbringen. Und gründlicher wie auch offener als der von Marcel Reich-Ranicki derzeit in Umlauf befindliche ist dieser allemal.
Es ist gut, neuerlich daran erinnert zu werden, dass es neben Heiner auch eine Inge und einen Wilhelm Müller gab. Dass Jürgen Theobaldy einmal Goethe zu einer Spritztour einlud und beide buchstäblich auf dem Acker landeten, wo sie sich „lachend und schreiend / aus der Karre wälzten“. Selbstredend hatte Goethe zuvor ordentlich auf dem Armaturenbrett herumgetrommelt und den Scheibenwischer demoliert.
Zu entdecken gibt es einiges. Das sei hier aber nicht verraten, weil ohnehin jeder seine eigenen Entdeckungen als solche deklarieren wird. Eigenartig allerdings mutet die Vorgabe aus Wulf Segebrechts Vorwort an, der „neugierige“ Leser möge doch diejenigen Autoren lesen, „von denen nur wenige Gedichte Aufnahme fanden“. Gerade den Neugierigen aber sollte man doch als Anthologist eben jenes Mehr an Stoff liefern, das sich die stets wiederkehrenden Kanones sonst weitgehend verbieten. Thomas Kling übrigens hatte 2001 dahingehend einen Versuch unternommen. Mutmaßlich weiterhin lieferbar.
So sind diese siebenhundert Seiten sehr gediegen geraten, sorgfältig gedruckt, ediert und im Apparat angenehm sparsam kommentiert. Nötig gewesen wäre das vielleicht nicht, aber schaden tut’s auch nicht. NICOLAI KOBUS
Wulf Segebrecht (Hrsg.): „Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 702 Seiten, 19,90 Euro