■ Der Lesetip: Vom Arztgeheimnis zum gläsernen Patienten
Erika Mustermann ist die gläserne Patientin des digitalisierten Gesundheitssystems. In dem Buch Der Gesundheitschip, herausgegeben von der Journalistin Ute Betrand, dem Juristen Jan Kuhlmann und dem Medizininformatiker Claus Stark, spielt sie die Hauptperson. Beschrieben wird, wie sie von der Anmeldung in der Arztpraxis über die Diagnose im Behandlungsraum bis zur Medikamentenausgabe am Apothekenautomaten vom Computer begleitet wird. Damit Galileus, das Expertenprogramm, seine Möglichkeiten entfalten kann, besitzt Frau Mustermann die Medicart, den Gesundheitschip der Zukunft. Noch in der Praxis spielt Galileus den ebenfalls schon gespeicherten optimalen Behandlungsplan und die Rezepte auf die Medicard, der Computer registriert die Termine beim Krankengymnasten, die er zuvor für die Patientin via Datenautobahn für den nächsten Tag vereinbart hat.
Während die Patientin Mustermann zumindest in dieser Form noch Fiktion ist, ist die männliche Hauptperson des Buches bereits fünfhundert Jahre alt: Ein Mann ohne Makel, gezeichnet von Leonardo da Vinci, um die perfekten Proportionen eines menschlichen Körpers zu vermessen. Leonardos Artefakt verkörpert ein Gesundheitsideal, das auf dem Bild des menschlichen Körpers als Maschine basiert, lautet die These der AutorInnen. Die Zeichnungen ziert nun auch die neuen Krankenversicherungskarten. Eine treffende Allegorie der weithin wirksamen mechanischen Körpersicht der Renaissance.
Den AutorInnen entgeht jedoch nicht die Veränderung des Originalbildes. Eine ganze Anzahl von Linien, mit denen Leonardo einzelne Körperteile besonders markiert hatte, fehlen auf der Computerkarte. Dieses Retuschieren führt zur zweiten These: Es symbolisiert einen Umbruch von der „mechanischen Körperteilmedizin“ zum „System Mensch“ des Computerzeitalters.
Computer sind die neuen Schlüsselmaschinen „zur Interpretation und Manipulation des Lebendigen“. Um die Gefahren dieser technologischen Revolution kenntlich zu machen, wählten die AutorInnen die Form der politischen Streitschrift. Diese Schriftform ist immer gerade in gesellschaftlichen Umbruchzeiten verwendet worden. Karl Kraus Wort: „Was nicht trifft, trifft auch nicht zu“, deutet auf den Stil dieser Streitschrift gegen einen übermächtigen Medizinapparat, angesichts dessen neuer Kontrolltechniken die Idee vom „mündigen Patienten“ endgültig in digitalen Räumen zu verschwinden droht. Ludger Fittkau
Ute Betrand, Jan Kuhlmann, Klaus Stark: „Der Gesundheitschip“. Campus-Verlag, Frankfurt/Main, 1995, 29,80DM
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