: Der Königssohn wird befreit
■ Ein Gegenwartsmärchen mit vertauschten Rollen
Eine Kindheit wie der verweichlichte Prinz Jan sie hat, der von seinen Eltern aus Furcht vor Unfall und Krankheit von allem ferngehalten wird, was lebendig ist, würde niemand sich wünschen. Aber eine Freundin wie die „wilde Sophie“ aus dem gleichnamigen Buch von Lukas Hartmann hätte sicher jeder gern gehabt. Sophie ist die Tochter des königlichen Zwetschgenkompottlieferanten, eine selbstbewußte, schlaue Göre, die all das darf, was Jan verboten ist: auf Obstbäume klettern, wie verrückt schaukeln und frech zu ihrem Vater sein.
Jan darf sich seinem Vater nicht widersetzen, denn der ist nicht nur als König, sondern auch als Erziehungsberechtigter ein rechter Tyrann. Seine Untertanen werden immer unzufriedener mit ihm. Dies natürlich nicht, weil er seinem Sohn alles verbietet, was Spaß macht und ihn richtiggehend einsperrt, sondern weil er sein Volk zu immer höheren Steuern preßt. Denn das alles will ja bezahlt sein: Die Vor-, Neben- und Hinterhergeher, die aufpassen, daß Jan nicht hinfällt. Die Kleideranwärmer und Insektenjäger. Die zusätzliche Mauer, die das Schloß nicht vor Angreifern, sondern vor Zugluft schützen soll. Schließlich die gläserne Kutsche, mit der Jan nach langem Hin und Her doch von Zeit zu Zeit das Schloß verlassen darf.
Hartmann erzählt die Geschichte von Jans Gefangenschaft mit vielen Details und skurrilen Einfällen. Und gerade, wenn die Spannung nachzulassen beginnt, weil Jans trostloses Dasein vollständig eingekreist und er selbst todtraurig ist, tritt Sophie auf den Plan. Genauer gesagt: Sie, die den Prinzen in seinem gläsernen Käfig seit langem bedauert, faßt einen Plan. Sie wird ins Schloß eindringen und Jan befreien.
Diese Befreiung ist nicht nur eine Abenteuergeschichte mit Konspiration und Kidnapping, Flucht und Verfolgungsjagd, Verletzten und zuletzt sogar einem Toten. Neben der Palastrevolution, die Sophie mit ihrer Aktion auslöst, wird hier zugleich auch eine Geschichte von Herrschaft und Auflehnung, von der Unerbittlichkeit der Machthabenden und der Eigendynamik der Macht erzählt.
Sophie kann bei ihrer Befreiungstat auf die Unterstützung von Köchinnen und Dienern zählen und auch auf Jans tatkräftige Mithilfe. Dem schmecken nämlich die von Sophie mitgebrachten Kirschen, und er ist längst neugierig auf das Leben, das ihm vorenthalten wird. All das ergibt eine spannende Mischung aus tollen Scherzen und bitterem Ernst, und Susann Opel illustriert die Ereignisse mit schönen ganzseitigen Zeichnungen.
Das Buch beginnt mit dem Satz: „Es war einmal ...“ Daß in einem Märchen ebensovieles phantastisch wie wahr ist, ist bekannt. Auch, daß Märchen, zumindest für die Kinder, meistens gut enden. Daher gibt es natürlich auch hier so etwas wie ein Happy-End. Wie das aber aussieht, soll hier nicht verraten werden. Axel Ruckaberle
Lukas Hartmann: „Die wilde Sophie“. Verlag Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1991, 192 Seiten, geb./ill., 23,80 DM (ab 8 Jahren)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen