piwik no script img

Archiv-Artikel

Der „Homo precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Christian Pfeiffer, 42, Grafikdesigner „Ich kenne durch meinen Job eine Menge Leute. Wir tauschen unser Können aus“

In dem dichten Gedränge der Menschenmenge erhebt Christian Pfeiffer* sein Sektglas und hebt an zu einer kurzen Dankesrede: „Liebe Freunde. Schön, dass ihr gekommen seid und mit mir mein neues Domizil einweiht – ohne euch wäre das hier immer noch eine Ruine.“ Für den 42-jährigen Grafikdesigner wäre der Einzug in die 4-Zimmer-Altbauwohnung in Kreuzberg ohne die Hilfe seiner Freunde finanziell unerschwinglich gewesen.

Der Vermieter veranschlagte für die Komplettsanierung der Räume mehr als 10.000 Euro und kündigte an, die Miete nach den Arbeiten erheblich anheben zu wollen. Es gab kein Badezimmer, keine Heizungsanlage, an den Wänden blätterte die Farbe ab und sämtliche Stromleitungen mussten dringend ausgetauscht werden.

Christian Pfeiffer überzeugte den Vermieter davon, keine Handwerker zu beauftragen, und versprach zur Rettung der günstigen Miete, die Arbeiten selbst durchzuführen. Was er nicht verriet, war der Plan, eine eigene Fachtruppe aus Bekannten und Freunden anzuheuern: „Ich kenne durch meinen Job eine Menge Leute. Wir tauschen schon seit langem unser Können aus.“

Für den Anstrich der Türen und Wände der Wohnung erhielt der befreundete Malermeister eine neu entworfene Werbebroschüre. Der Bruder der Exfrau ist gelernter Elektriker und zog neue Stromleitungen durch die Zimmer. Im Gegenzug überarbeitete Christian Pfeiffer seine Internetseite. Der vermeintlich teure Sanierungsfall Altbauwohnung wurde so Anlass und Paradebeispiel für ein modernes Tauschgeschäft.

Das soziale Netzwerk ist für den zweifachen Familienvater auch zu einer Art Versicherung geworden. Immer wieder passiere es, dass er nicht genügend Aufträge für seine Grafikdesign-Agentur erhalte. Dann klemmt sich Pfeiffer ans Telefon oder trifft sich mit Bekannten auf einen Kaffee, und man überlegt gemeinsam, wie das Können der Freunde ausgetauscht werden kann. „In meinem Freundeskreis machen das viele schon seit Jahren so“, erklärt der Grafiker.

In Berlin findet die älteste Wirtschaftsform der Menschheit seit einigen Jahren eine Renaissance. Laut einer Studie der hiesigen Industrie- und Handelskammer werden mittlerweile jährlich mehr als 17 Milliarden Euro oder ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts in der Schattenwirtschaft erarbeitet – auch moderner Tauschhandel und Nachbarschaftshilfe finden darin ihre Erwähnung. Den indirekten Vorwurf der Schwarzarbeit weist Christian Pfeiffer zurück: „Das sind Freundschaftsdienste; keiner von uns verdient Geld dabei.“

VOLKER HOLLMICHEL

* Name geändert