: Der Himmel voller Wimpel
■ Die »tanzlustigsten Rentner Berlins« zum achthunderdsten Mal im Berliner Prater
Die bunten Wimpel wehen fröhlich / Die starren Masten stehn bereit / In dir preist sich der Bootsmann selig / Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit. — Ach, wüßtest Du, Edith Clever, Du Obereurhythmistin des wiedergefundenen Preußentums, welch sehnsüchtige Erinnerungen diese von Dir auf Deinem hohen Syberberg so zum Weghören schön gefeierten Goethe- Verse in einem Deiner Lauscher wachriefen...
Wo wehten an diesem Sonntag die Wimpel fröhlich, wo priesen sich Bootsmänner selig, wo grüßte wirklich das Glück? Nicht im Goetheanum in der Hebbelstraße, aber ganz in der Nähe. Im Berliner Prater, Dimitroffstraße Ecke Kastanienallee, hing der Himmel voller Wimpel, und bunte Boote strahlten von den Wänden. Hier tobte der Fortschritt. Hier wurde gefeiert, was das Zeug hielt, denn an diesem 16. Dezember beging das Haus ein ganz einzigartiges Jubiläum: zum 800. Mal Sonntagsmelodie im Berliner Prater. Das Informationsblättchen für die Presse hatte nicht gelogen. Hier fand man wirklich die »lebensfreudigsten und tanzlustigsten Rentner Berlins«, und die Werner-Hintze-Combo (»Stammkapelle und Favorit unserer Rentner«) brachte in der Tat »das Blut in Wallungen und den Tanzboden zum Schwingen«. Hier verbringt, umrungen von Gefahr, so mancher Greis sein tüchtig Jahr. Und das schon seit 1965. 280 Sitzplätze stehen Spalier in strengen Reihen, und mindestens 40 Resopaltische werden im Fluge verlassen, sobald Werner Hintze vorn zum Keyboard schreitet. Dieser Combochef ist ein Entertainer, nach dem sich mancher Butterdampfer die Finger lecken würde. Wie er da steht und mit fast aufreizendem Blick in die Menge schaut und dann mit gespielter Langeweile ein paar Tasten drückt und listig die Töne hält, bis er ihn hört, den Stoßseufzer, das Signal: Ja, wir erkennen sie, die Pratermelodie. Und dann verfällt die ganze Bande in Gesang, daß es eine Lust ist.
Natürlich gibt es auch strenge Regeln, mit denen Neulinge aus dem westlichen Stadtteil anfangs ihre Schwierigkeiten haben. Man führt zum Beispiel seine Dame nicht mit steifen Schritten zum Parkett, sondern dreht und wendet und wirbelt sie schon auf dem Weg dorthin. Partnertausch ist erwünscht. Die Combo bahnt mit ausgedehnten Pausen neuen Freundschaften den Weg. Zwei Endsiebziger, er aus Neukölln und sie vom Prenzlauer Berg, sind sich einig, daß der »Kommunismus an sich eine vernünftige Sache« ist und daß man den Frieden in Europa nicht unbedingt als ein Verdienst von Kohl bezeichnen müsse. Sie nimmt's ihm nicht übel, daß er nebenbei den Blick nach einer »sonntäglichen Flamme« schweifen läßt, und hält es ohnehin mehr mit dem Fürstenberg Gold. Werner Hintzes feuriger Einsatz bereitet schließlich dem Gespräch ein zwingendes Ende.
Scharf beobachtet von der Prenzelbergerin, unternimmt der Neuköllner noch mehrere Versuche in Richtung Flamme und holt sich ein paar Körbe, was die schalkhafte Freundin, unermüdlich Fürstenberg herunterschüttend, damit erklärt, daß er eine feste Regel des Hauses nicht beachtet habe. Der Neuköllner hatte unglücklicherweise immer Tische mit zwei Damen angesteuert. Das ist aber im Prater nicht Sitte, weil dann ja immer eine Dame sich zurückgesetzt vorkommen müsse. Man nähert sich also Tischen mit einer Dame oder mindestens dreien. Dem Neuköllner leuchtet das ein. Beim letzten Versuch hat er Erfolg. Ein paar Mal noch sieht der Besucher die einzigartige Hemd-Krawatten- Kombination des Charmeurs in der Woge der Tanzenden funkeln, dann muß er hinfort, von Edith Clever zum Hören bestellt. Im Vorgefühl von solch hohem Glück genießt er hier und jetzt den höchsten Augenblick. Dose
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen