Der Hausbesuch: Drucken gegen die Diktatur
Luis Drews wuchs in einem Slum in Uruguay auf. Von linkem Theater politisiert, kämpfte er mit Siebdruck gegen die Militärjunta.
Lockige graue Haare rahmen das Gesicht von Luis Drews, am Hinterkopf sticht eine hüftlange Strähne hervor. Ein „Zeichen des Widerstands“, erklärt er.
Draußen: Eine ruhige Seitenstraße in Berlin-Neukölln ohne hippen Chic, es gibt einen Späti und ein paar Tischtennisplatten auf dem nahegelegenen Platz. In den breiten Fenstern einer Druckerei hängen Zeichnungen, Plakate, Postkarten, T-Shirts.
Drinnen: In diesem Laden lebt und arbeitet Luis Drews. Zwei Wände im hinteren Teil sind bestückt mit privaten Fotos aus allen Jahrzehnten. Viele lächelnde Menschen, Arm in Arm, dazwischen Kinderzeichnungen. In der Mitte des großen Raumes steht ein Gerät, das wie eine Metallspinne aussieht: eine Siebdruckmaschine. Dahinter ein Kaleidoskop an Farbtöpfen, die Chemie kann man riechen. Außerdem: Platten- und CD-Stapel, kleine Skulpturen und Trommeln. Es läuft Candombe, Folkloremusik aus Uruguay. Auf dem Schreibtisch steht eine Matetasse.
Barfuß: Drews, 63 Jahre alt, ist in einem Cantegril aufgewachsen, so heißen die Armenviertel um Uruguays Hauptstadt Montevideo. Nebenan Müllhalden, so groß wie ein ganzer Bezirk, sagt er. Er ist der Zweitälteste von sechs Geschwistern, sein Vater war Deutscher und sei nie für ihn dagewesen. Zu Hause, erzählt Drews, gab’s viel Streit und wenig zu essen. Seine Kindheit habe er meist nicht in der Schule, sondern „ohne Schuhe auf der Straße“ verbracht, wo er nach Essensresten für sich und seine Familie suchte. Oder nach Kernen von Obst und Gemüse, um sie anpflanzen und selbst etwas ernten zu können. Manchmal habe er Meerschweinchen oder Tauben gejagt.
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Schule: Den Unterricht besuchte Drews nur sporadisch, mit zwölf Jahren konnte er noch nicht lesen. Als ein Lehrer ihn beim Rauchen erwischt und daraufhin geschlagen habe, sei er noch seltener hingegangen. Er bereue das nicht, denn so habe er mehr Zeit gehabt, nach Essen zu suchen, sagt er. Mit 14 hielt er die Streitereien zwischen seinem alkoholabhängigen Stiefvater und seiner Mutter nicht mehr aus und haute ab. Er sei bei einem Pärchen untergekommen. Dessen Bedingung: Er solle sich mit um ihr Baby kümmern, wieder zur Schule gehen und einen Abschluss machen. Er hielt sich daran, bekam eine Bescheinigung – habe aber letztendlich nicht viel gelernt: „Schule ist gegen die Natur des Menschen. Sie kastriert sie.“ Noch heute ist das seine Überzeugung.
Theater: Mit dem Abschlusszeugnis bekam er einen Job in einer Tischlerei. „Diese Stufe von der Armutsklasse zur Arbeiterklasse war riesig für mich. Das kann man sich nicht vorstellen.“ Er wollte dazugehören, doch seine ArbeitskollegInnen hätten ihn ausgegrenzt. Alle, bis auf einen. Der habe ihn nicht einfach abgestempelt, sondern zu seiner Theatergruppe eingeladen. Erst habe Drews abgelehnt: „Theater, das war was für die Elite, für gebildete Menschen, für die Oberschicht.“ Dann ging er doch einmal mit und war überwältigt: „Das Theater hat mich sofort akzeptiert, trotz meiner Herkunft. Es war ein Theater, das von und für Arbeiter war, nicht nur für Reiche.“ Zu der Zeit, während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985, war es die erste zugelassene Theatergruppe in ganz Uruguay. Er durfte wiederkommen und eine Bank bauen, dann ein Bühnenbild.
Gesehen werden: Am meisten beeinflusst habe ihn der Direktor des Theaters, Artigas Lemez. Er war der einzige der Truppe, der die Universität besucht hatte. „Er hat mich als Mensch gesehen“, sagt Drews. Später löste die Militärdiktatur das Theater auf, Artigas Lemez musste fliehen und sie verloren sich aus den Augen.
Puppen und Politik:Dann kam Luis Drews in das Puppentheater von Gustavo Martínez, den alle nur „Tato“ nannten. Die Gruppe stand nicht nur auf Bühnen, sondern war auch im Untergrund, im politischen Widerstand, aktiv. Er wurde eingeweiht, hörte zu, einer von ihnen brachte ihm gar das Lesen bei, mit politischen Schriften. Drews spürte die Überzeugung der Leute, ihren Willen, etwas zu ändern – obwohl sie sich damit in Lebensgefahr brachten. Zum ersten Mal habe er einen höheren Sinn, eine Aufgabe für sein Leben gesehen, die über das bloße Überleben hinausging. „Dieser Eintritt in die linke Szene hat meinen Kopf total verändert. Ich hatte viel Angst, aber ich wusste, ich muss dabeibleiben.“
Siebdruck: Der politisierte Drews trat danach einer Vereinigung von und für Menschen bei, deren Freunde und Familie verschleppt worden waren oder aus politischen Gründen im Gefängnis saßen. Die Casa Solidaria war Teil der Tupamaros, einer kommunistischen Guerillabewegung. „So habe ich wieder total andere Leute kennengelernt, viele dort waren aus der Mittelschicht.“ Mit Plakaten und Flyern demonstrierten sie für die Freilassung der Gefangenen. „Das war lebensgefährlich.“ Wollte man Farbe und andere Utensilien für den Druck kaufen, musste man seinen Ausweis vorzeigen, erzählt er – viel zu riskant. Luis und seine MitstreiterInnen improvisierten: Als Sieb benutzten sie aufgeschnittene Nylon-Strumpfhosen und für die Farbe kochten sie bestimmte Blätter aus dem Dschungel, die Drews’ Mutter früher zum Haarefärben verwendete. Das Rezept kann er heute noch aufsagen.
Umbruch: 1985 wird die Militärdiktatur durch eine konservative, aber liberalere Regierung abgelöst, die politischen Gefangenen kommen frei. Luis ist inzwischen ein Siebdruckexperte und kommt durch Freunde an eine eigene Werkstatt. An seinen freien Wochenenden bietet er marginalisierten Gruppen Siebdruckkurse an. So lernt er mehr Leute aus der linken Szene kennen, auch deutsche Organisationen, die zur Entwicklungsarbeit nach Uruguay kommen. Im Jahr 1994 trifft er so seine zukünftige Ehefrau. Die Berlinerin ist für ein Praktikum in Uruguay, sie verlieben sich. Als sie zurück muss, verspricht sie, bald wieder nach Uruguay zu kommen. Aber es klappt nicht. Sie schlägt Drews vor, sie in Berlin zu besuchen. „Ich bin für drei Monate nach Deutschland geflogen. Daraus sind 28 Jahre geworden.“
Friedrichshain: Direkt nach seiner Ankunft fährt die Freundin mit ihm zu einem besetzten Haus in Friedrichshain. „Als ich ausstieg und das Haus sah, traute ich meinen Augen nicht. Es sah aus wie ein Haus aus meinem Ghetto, nur vierstöckig. Alles war kaputt, chaotisch, Klamotten lagen rum“, erzählt Luis Drews. „Ich dachte nur, ich komme doch aus der Dritten Welt und das hier soll die Erste Welt sein!“ Er wird Teil des Besetzerkollektivs, die anderen vermitteln ihm Jobs, mit denen er sich durchschlagen kann. Seine Freundin wird schwanger, schnell sind sie sich einig: Das Kind soll in Deutschland aufwachsen. Also bleibt er.
Druckerei: Während des Gesprächs kommt ein junger Mann in den Laden und fragt, ab welcher Menge Drews Aufträge annimmt. Der Kunde nimmt ein T-Shirt vom Stapel, Drews weist ihn darauf hin, dass er den Siebdruck vorgestern selbst gemacht habe. „Siebdruck?“, antwortet der Mann. „Das ist doch Foliendruck“, er kenne sich aus, habe das studiert. Drews deutet auf seine Maschine und Dinge im Raum, die er selbst bedruckt hat. Der Mann nickt. „So ein feiner Siebdruck, selten gesehen.“ Er wolle die Tage noch mal wiederkommen. Luis Drews weiß um die Qualität seines Handwerks. Dass es mit seinem Traum einer eigenen Druckerei wirklich geklappt hat, dafür ist er noch heute dankbar. Ein befreundetes Kollektiv hat ihm bei der Gründung mit Startkapital geholfen.
Liebe statt Kampf: Rückblickend seien es die Menschen, die in sein Leben getreten sind, die das Unmögliche möglich gemacht hätten, sagt er. In Uruguay gibt es ein Sprichwort, das heißt „Arriba los que luchan“ – es kommt weiter, wer kämpft. Tato, der damalige Leiter des Puppentheaters, habe einmal gesagt, das sei nicht ganz richtig, es sollte heißen „Arriba los que aman“ – es kommt weiter, wer liebt.
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