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Archiv-Artikel

germaine tillion ist tot Der Harem und die Cousins

Wie viele große Köpfe des 20. Jahrhunderts hat Germaine Tillion zwei Leben gelebt. Ein erstes, das sie sich selbst ausgesucht hat und das sie der Ethnologie widmete: 1907 im französischen Département Haute Loire geboren, studierte sie in Paris Ethnologie und lebte von 1934 bis 1940 in Algerien, großenteils bei einem Berberstamm im Berggebiet Aurès, über den sie forschte. 1940 ins von den Nazis besetzte Frankreich zurückgekehrt, wurde sie in ein zweites Leben gedrängt: Sie vergaß die Ethnologie und organisierte sich in der Widerstandsgruppe „Musée de l’Homme“, wurde denunziert und 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert.

Nach dem Krieg wird die Erfahrung von Knechtschaft und Entrechtung Tillions weiteres Leben insofern prägen, als sie nicht mehr nur forscht, sondern auch durch politisches Engagement ihre Überzeugungen zu verwirklichen versucht. Überzeugungen, mit denen sie sich nicht nur Freunde macht, denn sie weigert sich, dem allgemein verbreiteten Lagerdenken zu huldigen. 1946 erscheint ihr Buch „Ravensbrück“. Sie forscht über die deutschen Kriegsverbrechen, verneint jedoch eine deutsche Kollektivschuld. Sie engagiert sich für die Aufklärung der Lebensbedingungen in den sowjetischen Gulags. 1957, auf dem Höhepunkt des Algerienkrieges, setzt sie sich für Gespräche zwischen der französischen Regierung und der algerischen Guerilla FLN ein. Sie kritisiert sowohl die Folter der französischen Kolonialisten als auch die Terroranschläge der Guerilla.

1966 veröffentlicht sie ein weiteres wichtiges Werk: „Le Harem et les cousins“, in dem sie aufzeigt, dass im gesamten Mittelmeerraum die gleichen patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen bestehen: endogame Heirat (also Eheschließung vor allem zwischen Cousins und Cousinen in männlicher Linie), Geschlechtertrennung und Patrilinearität. Sie zeigt, dass diese Strukturen, die gleichermaßen in den christlichen Mittelmeerländern wie in muslimisch geprägten Gesellschaften vorherrschen, die Unterdrückung der Frauen verursachen und zementieren. „In dieser Zeit der allgemeinen Entkolonisierung ist die große Welt der Frauen in vielerlei Hinsicht immer noch eine Kolonie“, sollte sie dazu einmal sagen.

Für ihr Engagement wurde sie vielfach geehrt. 2004 verlieh ihr Bundespräsident Johannes Rau das Große Bundesverdienstkreuz für ihre Bemühungen um die deutsch-französische Aussöhnung. „Die Schmerzen und der Hass werden aufhören“, schrieb sie. „Die, die nicht vergessen können, sterben auch, alles geht vorbei. Nur einige Werke bleiben, als ein allen gemeines Territorium, ein Kulturerbe ohne Grenzen.“ Am Samstag ist Germaine Tillion in Val de Marne gestorben. Am 30. Mai wäre sie 101 Jahre alt geworden. ANTJE BAUER