piwik no script img

■ Der Hamburger Kessel: Heute vor 10 Jahren wurden 862 Demonstranten auf dem Heiligengeistfeld bis zu 15 Stunden lang von der Polizei allzu eng umschlungen„Schönen Sonntag auf Staatskosten“

Mit „einem Sportstadion in Chile“ sei das Geschehen zwar nicht vergleichbar, aber „die Grenzlinie dazu ist mir zu undeutlich“: Sozialsenator Jan Ehlers kritisierte in einem Brief an seinen „sehr geehrten Herrn Kollegen“ Innensenator Rolf Lange den Parteigenossen in ungewöhnlich harscher Form. Ins gleiche Horn stieß der damalige Umweltsenator und heutige SPD-Landeschef Jörg Kuhbier, auch der Fraktionsvorsitzende und heutige Bürgermeister Henning Voscherau distanzierte sich: Ein Riß ging durch Partei und Senat, die folgende Regierungskrise endete mit Langes Rücktritt.

Heute vor zehn Jahren, am Sonntag, dem 8. Juni 1986, wurden exakt 862 Anti-Atomkraft-Demonstranten auf dem Heiligengeistfeld von mehreren Hundertschaften Bereitschaftspolizei bis zu 15 Stunden lang ihrer Freiheit beraubt: Im „Hamburger Kessel“, der größten Massenfestnahme in der Geschichte der Bundesrepublik, mußten sie vom Vormittag bis nach Mitternacht ausharren, ohne Essen, ohne Getränke, ohne Toilette. Gegen weitere Demonstranten, die zu Fuß und mit einem Taxenkonvoi gegen den Kessel protestierten, ging die Polizei mit heftigen Schlagstock-einsätzen vor.

Die Hamburger Bürgerschaft sprach später von „bedrückenden Berichten der Betroffenen“ und „Entgleisungen der Polizeibeamten“. Der Polizeiführung und Innensenator Lange, die vermeintlichen „Chaoten, der Hafenstraßen-Szene und RAF-Sympathisanten“ das Handwerk hatten legen wollen, wurde Unfähigkeit attestiert.

Das Landgericht Hamburg erklärte den Kessel für „rechtswidrig“. Vier Polizeiführer wurden der Freiheitsberaubung angeklagt, wegen „nur geringer Schuld“ aber nur zu Geldstrafen auf Bewährung verurteilt. Alle wurden nach einer mehrjährigen Schamfrist befördert. Viele Opfer klagten auf ein „symbolisches Schmerzensgeld“. Das Landgericht sprach ihnen 200 Mark zu, damit sie sich „einen schönen Sonntag auf Staatskosten machen“ könnten ... Sven-Michael Veit

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen