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Archiv-Artikel

Der Grundriss der Buddenbrooks

Das Jenisch Haus zeigt eine seltene, aber schon lange ausstehende Ausstellung: Unter dem poetischen Titel „Architektur, wir sie im Buch steht“, präsentiert sie etliche Zeichnungen und Modelle von Gebäuden, die in Romanen und Novellen verschiedener Epochen beschrieben wurden

Der Utopist in uns hat es nicht leicht in diesen Zeiten. Er wird der Träumerei, der Phantasterei bezichtigt. Das Postulat vom „Ende des utopischen Zeitalters“ bildet seinen Widerpart – und hat den Realo auf den Thron gesetzt. Dem Mythos des Fortschritts ergeben, erweist sich dieser als Verwalter des Bestehenden, da er die Macht der Phantasie schlicht leugnet. Er verbannt die Imagination in die Kunst und die Kunst ins Reich der Imagination. Realpolitik statt Staatskunst, Bauwesen anstelle von: Architektur.

Wie Balsam auf die Seele des Utopisten wirkt da ein Streifzug durch die klassizistischen Zimmer des Jenisch Hauses. „Architektur, wie sie im Buche steht“ heißt die dortige Sommerausstellung. Ihr Thema ist ein Novum: die bislang weder in Literatur- noch in Architekturtheorie behandelte Wechselwirkung zwischen Dichtung und Baukunst.

Seinen Ursprung hat das Projekt in der Technischen Universität München. Winfried Nerdinger, Architekturhistoriker und „leidenschaftlicher Romanleser“, hat dort Seminare zu Literatur und Architektur angeboten. So genau wie möglich sollten die Studenten in belletristischen Werken beschriebene Bauten zeichnen oder nachbauen.

Herausgekommen ist eine geradezu monumentale Ausstellung: Anhand von rund 150 Werken der Weltliteratur demonstriert sie, wie eng die beiden Künste verwoben sind. Zusätzlich zu den Entwürfen und Modellen der Studenten hat man viele bisher unbekannte Stücke aus Archiven und Nachlässen geholt.

Um herauszufinden, wie die Dichter ihre in Sprache entworfenen Räume, ihre Gebäude, Städte und Landschaften entwickelten, suchte man nach Skizzen. Man wurde fündig: Eigens für seine Erzähl-Räume zeichnete Theodor Fontane die Umgebung seiner Novelle „Unterm Birnbaum“. Thomas Mann legte Grundrisse für das „Buddenbrook“-Haus an. Nun weiß man, dass es nicht mit seinem Geburtshaus identisch ist. Umberto Eco lieferte eine ganze Mappe an Skizzen, die vor allem aus der Schaffenszeit des Romans „Im Namen der Rose“ stammen.

Auch die Gestalter der realen Räume, die Architekten, kommen nicht zu kurz. So ist eine Reihe von Karl Friedrich Schinkels Gebäudezeichnungen zu sehen. Sein Gemälde „Schloss am Strom“, zu dem er durch eine Erzählung Clemens Brentanos inspiriert wurde, hängt im Zentrum des Rundgangs „Dichtung wird Architektur“. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Architekten an so manch erdichteter Welt versucht. 1917 etwa brachte der Stadtarchitekt von Lyon die utopische Industriestadt Emile Zolas zu Papier. Das Schloss aus dem Roman „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff ließ sich ein württembergischer Graf sogar in die Schwäbische Alb bauen.

„Soziale Vision – Fiktive Stadt“ heißt die letzte Station der Schau. Ein Original von Thomas Morus‘ „Utopia“ liegt dort hinter Glas. Von Jules Vernes „Propellerinsel“ haben die Studenten ein Modell angefertigt. Ebenso wie von Arno Schmidts „Gelehrtenrepublik“. Fazit: Zeit sollte man mitbringen in die unerschöpfliche Schau. Denn sie bietet Blicke in die „innere Burg“, die Theresia von Ávila einst als Allegorie der menschlichen Innenwelt entwarf. Blicke in die Festung der Phantasie. MART-JAN KNOCHE

Die Ausstellung ist bis 30. 9. im Jenisch Haus, Baron-Voght-Str. 5, zu sehen. Geöffnet Di–So 11–18 Uhr