■ Der Großangriff der serbischen Truppen auf Goražde: Nichts zu tun wird am teuersten
Es übersteigt sicherlich das Fassungsvermögen vieler, sich vorzustellen, was zur Zeit in der bosnischen Enklave Goražde geschieht. 60.000 Menschen versuchen, angesichts des Angriffs einer hochgerüsteten Armee auf ihre Stadt zu überleben – und das nach einer fast zweijährigen Belagerung. Was mögen die Einwohner Goraždes, was mögen die Männer, die einen verzweifelten Abwehrkampf führen, jetzt denken, nachdem sie erfahren haben, wie im UNO-Hauptquartier zynisch über ihr Schicksal geredet wird. Es scheint so, als wolle niemand zur Hilfe kommen, nicht einmal eine Drohung mit Luftangriffen ist den Mächtigen der Welt das Überleben dieser Menschen wert.
Dabei treten die Konturen der Strategie der serbischen Nationalisten gerade bei diesem Angriff völlig offen zutage: Mit Srebrenica und Zepa bildet Goražde eine der drei Enklaven in Ostbosnien, die, solange sie existieren, die Erinnerung daran wachhalten, daß dieses Gebiet vor noch zwei Jahren eine aus Muslimanen und Serben gemischte Bevölkerung hatte. Mit der Eroberung der Nachbarstadt Goraždes, Foca, begann im April/Mai 1992 die Austreibung der muslimanischen Bevölkerungsmehrheit. Die Sprengungen der jahrhundertealten Moscheen von Foca wiesen schon damals darauf, daß mit der Vertreibung auch die Wurzeln der Kultur der „anderen“ vernichtet werden soll. Ostbosnien zu einem „ethnisch reinen serbischen Gebiet“ zu machen ist das erklärte Ziel des serbischen Nationalismus.
Trotz vehementen Leugnens: Ähnelt diese Strategie der Eroberung und Vertreibung nicht doch den nationalsozialistischen Okkupationen? Sind die Menschen in Goražde weniger wert als jene in Sarajevo? Ist immer noch nicht verstanden worden, daß allein die nachdrückliche, auch militärische Mittel einschließende Drohung die serbischen Faschisten davon abhalten kann, von ihrer Aggression abzulassen?
Offenbar nicht. Ist denn die amerikanisch-russische Zusammenarbeit so weit gediehen, daß nach dem kroatisch-bosnischen Abkommen die Enklaven wie Goražde möglicherweise auch Maglaj und Bihać den serbischen Nationalisten zum Fraß vorgeworfen werden? Oder bleibt das Sarajevo-Ultimatum ein Einzelfall, weil dem Westen eine Wiederholung zu teuer ist? Das eine wie das andere wäre nicht nur zynisch, sondern für uns alle verhängisvoll. Wer den Faschisten nachgibt, wird am Ende selbst eine weit höhere Rechnung zu bezahlen haben, als ein paar Kontingente UNO-Soldaten oder der Einsatz einiger Flugzeuge kostet. Und die Rechnung wird um so höher ausfallen, je länger gewartet wird. Für die Toten von Goražde kommt jede Hilfe schon zu spät. Für die verzweifelt auf uns hoffenden noch Überlebenden nicht. Erich Rathfelder, Split
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