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Archiv-Artikel

Der Glaube an das Bessere

Mit biblischer Rhetorik und kurpfälzischer Bodenständigkeit begeisterte Xavier Naidoo die Jugend in der Wuhlheide. Sang er von Heimat, war vor Zustimmung kaum noch Musik zu hören

Caipirinha hilft, das Unbehagen beim „Deutschland“-Singen abzustreifen

von DANIEL BÖSE

„Wisst ihr, was am geilsten ist? Natürlich bin ich vor dem Konzert draußen rumgefahren. Zu sehen, wie die Leute herkommen, sich die Mühe machen, ihr Auto parken, ist mit am geilsten.“ So beantwortet Xavier Naidoo die Frage, wie er sich für das Open Air in der Wuhlheide warm gemacht hat. Nicht Backstage, sondern im Auto. Schon vor Jahren hat Xavier erzählt, wie der Wind den Rauch der Marihuana-Tüten amerikanischer Rapper direkt aus ihrem faradayschen Käfig in seinen trägt. Auch heute hat er wohl aus der Fahrerperspektive eines seiner schnellen Sportwagen das Parkplatzgeschehen beobachtet, während Reamonn das Publikum warm gespielt haben.

Um viertel nach acht sind Reamonn fertig, und eine Viertelstunde später geht es los: „Wir sind 20.000 Meilen über dem Meer.“ Abheben und ein bisschen nach dem Himmel greifen, dafür sind hier alle gekommen. Die Ersten, die abgehoben haben, waren die zwei Mädels, die keine Karten hatten. Zwei Jungs im Musikbusiness-Look drückten ihnen Gästelistentickets in die Hand. Wie unfassbar dieses Glück war, erfuhr die Ticketabreißerin: Sie musste die zwei, die nur noch auf- und abhüpften, festhalten, um ihnen den Eingangsaufkleber auf die Brust pappen zu können.

Xavier macht weiter mit den Stücken seines aktuellen Doppelalbums: „Alles für den Herrn/ Zwischenspiel“, „Wo willst du hin“ und „Keiner weiß, was der Morgen bringt“. Dann kommt der erste Gast auf die Bühne, President Brown aus Jamaika, denn „Deutschland braucht positive Ausstrahlung!“ Logisch, Reformdiskussion weit und breit, da muss doch einer daran erinnern, dass es besser wird. Also singen sie zu zweit: „Some things will change for the better“. Bei der Berliner Jugend kommt das an, ein blonder Junge in weiten Skater-Jeans ballt die Faust und singt jede Zeile mit.

Beim Open Air in der Wuhlheide geht man nicht so leicht in der Körpermasse unter, wer auf den Rängen steht, hat gute Sicht. Ein Junge in roter Trainingsjacke mit Sonnenbrille in den Haaren lässt jemand am Handy mithören, mehr als 20 Minuten lang. Manche schlagen die Arme wie Flügel oder packen aus dem Picknickkorb eine Hula-Plastikblumenkette aus zum Schwenken.

Die Kraft von Xaviers Stimme beim Singen und Rappen greift langsam auf das Publikum über. Das Mädchen, das seit Beginn des Konzerts auf der Treppe steht und dort die Hüften schüttelt, hält den laufenden Bierverkäufer mit dem Slayer-Tattoo auf und greift ihm in die blondierte Tolle. Ihre Freundin will auch was abhaben und streichelt das Tattoo auf dem Oberarm.

Der Entertainer Xavier weiß, dass er jetzt noch mal richtig Schub geben muss. Also erst die Ansage: „Berlin! Ihr seid unsere Hauptstadt, ihr müsst vorangehen mit gutem Beispiel. Wenn ihr das schafft, schaffen wir das auch.“ Dann das Stück „Himmel über Deutschland“. Das martialische Blitzlichtgewitter, das den Refrain begleitet, könnte die Assoziationskette in Richtung Rechtsrock anstoßen. Schließlich wurde das von einem Kritiker schon dem Text vorgeworfen, der tatsächlich von „Helden für den Krieg, der diese Welt zu Fall bringt“ handelt. Aber erst hilft der 5-Euro-Caipirinha, das Unbehagen beim Mitsingen der Vokabel „Deutschland“ abzustreifen. Dann reift die Erkenntnis, dass es genau der Widerspruch aus biblischer Erlösungsrethorik und Xaviers kurpfälzischer Bodenständigkeit ist, der die Menge begeistert. Xaviers Soul auf Deutsch funktioniert, eben weil man bei den Texten immer wieder denkt: „Wie abgedreht ist das denn, das meint er doch nicht ernst?“ Aber die konsequent durchgehaltene lyrische und unbestimmte Spiritualität zeigt, dass es ihm ernst ist. Seine Stimme ist groß genug, um die Ernsthaftigkeit zu tragen.

Was Xavier von der deutschen Seele versteht, zeigt die nächste Ansage: „Kennt ihr den Augenaufschlag von der Maus aus der Sendung mit der Maus?“ Plock, plock kommt es aus den Boxen. „Der RZA wusste gar nicht, wie tief dieser Sound mit der deutschen Seele verknüpft ist.“ Der amerikanische Rapstar RZA vom Wu-Tang-Clan steht dann auch auf der Bühne, und im Duett performen sie: „Ich kenne nichts, das so schön ist (wie du)“ inklusive Maus-Sound. Während sich der RZA im türkis Schlapphut von der Menge feiern lässt, liegt jetzt der Bierverkäufer seiner Bewunderin in den Armen. Lila Laser gehen an, der Himmel ist dunkel geworden, Wunderkerzen werden ausgepackt. Das Frauenübergewicht beim Publikum wird deutlich, als sie nach dem ersten männlichen Gesangsversuch ungefragt weitersingen. Aber Xavier ist genug Ladysman, um klarzustellen: „Mädels, genießt doch einfach mal.“

Noch ein Stück Überweltlichkeit besingt Xavier als Zugabe: „Sie ist nicht von dieser Welt, die Liebe, die mich am Leben hält“. Als Letztes gibt es das „kleine Lied“ mit kleiner Besetzung aus Keyboarder Neil und den Background-Sängerinnen Annett und Kerstin. Beim Wort Heimat fangen noch mal alle an zu schreien, vor Begeisterungspfiffen ist kaum noch Musik zu hören. Schlag halb elf ist alles vorbei. Am Ende passen alle in eine S-Bahn. Keiner rüpelt, keiner grölt, alles voll in Ordnung.