Der Fortsetzungsroman: Kapitel 2: L wie Lust
Was bisher geschah: Ein harmloser Moment in ihrem Neuköllner Schlafzimmer konfrontiert Leena mit ihrer Lust. Die jetzt gelebt werden will. Gefälligst.
Leena stromerte die Pannierstraße hinab und die Weserstraße hinauf und suchte sich schließlich in einem der angesagten Cafés, die rund um den Reuterplatz aus dem Boden schossen wie andernorts Ölfontänen, einen Platz in der Sonne.
Sie wickelte sich in die bereitliegende frühlingsgrasgrüne Fleecedecke und ließ sich auf dem klapperigen Holzstuhl nieder. Um sie herum streckten sich hungrige Gesichter in die Sonne, die Augen geschlossen, die Nasenrücken gezeichnet von Abdrücken schwerer (Fensterglas-)Brillen. Auf den Tischen vor den Gesichtern standen koffeinfreie Kaffee-Milch-Getränke oder Kaffee-Soja-Mischungen im Verhältnis eins zu drei.
Leena betastete die Beule an ihrem Kopf. Vor ein paar Tagen war plötzlich mit viel Brimborium und ohne weitere Erklärungen das Wort LUST in ihrem Leben aufgetaucht – als Antwort auf eine Frage, die Leena längst vergessen glaubte. Erst als sie versuchte, ihre Gedanken unter fließendem Wasser aus ihrem Badewannenhahn zu klären, stand die verdrängte Frage wieder vor ihr, in blinkender Leuchtschrift:
Warum bin ich so traurig? So stumpf? Warum so leer?
lebt als freie Autorin in Neukölln. Ihr aktueller Roman „leben nebenbei“ erschien im vergangenen Jahr beim Querverlag. Außerdem ist sie in Gestalt ihres Alter Egos CayaTe auf SpokenWord-Bühnen aktiv. Sie schreibt wöchentlich den Fortsetzungsroman „Lust. Ausgerechnet“ auf der letzten Seite des taz.plan – immer donnerstags am Kiosk in der taz.berlin.
Dem Schreck über dieses Triptychon und dem allzu nah über ihrem Kopf schwebenden Hahn verdankte sie die Blessur und hatte seither Kopfschmerzen, aber noch immer keine Ahnung, was die kryptische Antwort auf diese Frage bedeuten sollte.
Lust.
„Sag mal“, wandte sie sich an den Typen am Nachbartisch. „Wenn du das Wort ’Lust‘ hörst, woran denkst du dann?“
Er errötete unter seinem gepflegten Zweiwochenbart. „Ähm …“, antwortete er. „Ich hab schon eine Freundin.“
Leena inspizierte ihn, als wäre er ein seltenes Insekt. Dann nickte sie und zog ihren Tablet aus der Tasche. Sex, notierte sie. Ihre Neugier war geweckt.
Woran denkt ihr als Erstes bei dem Wort Lust? #Lust twitterte sie.
Die Bedienung, weich und üppig in gestrickten Ethno-Leggins, wartete ruhig neben Leenas Tisch. Leena orderte heißes Wasser, ein leeres Glas und eine Antwort auf die Frage nach der Lust.
„Lass mich nachdenken“, bat die junge Frau ohne einen Anflug von Verwunderung und ging, das Wasser zu holen. Und Leena wartete. Mit den beiden Gläsern kam eine weitere Antwort. Nachdenklich vermerkte Leena: Lachen.
Dann warf sie den hübschen, runden Minibrownie mit einem Anflug von Bedauern in den Aschenbecher, weil sie schon lange vor dem Vegantrend allem fleischlichen und tierischen abgeschworen hatte. Sie zog einen Plastikbeutel aus der Tasche. ’Melisse‘, stand darauf – in ihrer gestochenen Handschrift, die aufrecht und gerade und stolz war und deren Oberlängen exakt den Unterlängen entsprachen.
Leena warf ein paar Blätter in das leere Glas, goss das Wasser aus dem anderen darauf und rührte so heftig, dass ihr beim Anblick des Blätterstrudels schwindlig wurde. Erst als die Blätter auf den Grund gesunken waren, schaute sie wieder auf den Computer. Fünf Antworten.
Leena schob ihre übergroße, dunkel gerahmte Brille höher. Würde sie selbst frei assoziieren, würde sie ausschließlich bei Allgemeinplätzen landen. Ihr Freundeskreis war kreativer: Bis auf den Sex, der offenbar allen durch den Kopf schoss, waren die Antworten auf ihrem Bildschirm so unterschiedlich wie die Menschen, die sie schrieben.
Erstens: Sex. Zweitens: Unlust. Drittens: Essen. #Lust
Ficken. Was sonst? #Lust
Für mich, ganz klar: Verwandlung. #Lust
Lieben. Leben. Morden wahrscheinlich auch. Wieso? #Lust
Am schlimmsten war Nurays Antwort:
L wie Lust. Leidenschaft, Leichtigkeit, Loslassen. #Lust.
Leena starrte die Worte an. Nahm einen großen Schluck Melissentee und gleich noch einen zweiten. Keine einzige der Assoziationen ihrer Freunde kam in Leenas Alltagskanon vor. Nicht eine.
Bei einer statistischen Umfrage unter sämtlichen Menschen, die sie kannte, würde Leena eine Ehrenmedaille cum laude in der Rubrik „Kontrolle“ erhalten. Spielend. Und Kontrolle war das gefühlte Gegenteil von … eigentlich fast allem. Ein dritter Schluck.
Sie recherchierte gegen die Enge in ihrem Brustkorb an. In einem Onlinelexikon fand sie: Lust (kein Plural): [1] Verlangen, Wunsch [2] Freude, (Wohl)Gefallen [3] Sexuelles Verlangen.
Sie las sich weiter durch Artikel über Wollust, Freuds Lustprinzip und die antike Philosophie und blieb schließlich bei Wikipedia hängen. „Fehlt die Fähigkeit, dem Erleben der Lust Gestalt zu geben, ist dies ein Anzeichen für die Erkrankung an Depression.“
Depression?, dachte Leena. Was für ein Unsinn. Sie stürzte den halb warmen Rest des Tees hinunter und fasste einen Entschluss.
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