: Der Faxmacher
von BARBARA BOLLWAHN
Eine betagte Olympia-Schreibmaschine, ein Faxgerät älteren Semesters und ein „Adressbuch mit Anschriften, Telefon- und Faxnummern aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens“. Akkurat angeordnet stehen sie auf dem Schreibtisch, kein einziger Stift tanzt hier aus der Reihe. Mit diesen Gerätschaften wirbelt Karl-Friedrich Lentze den Staub in deutschen Amtsstuben auf.
Eigentlich ist Lentze ein konventioneller Künstler. Als junger Mann hat er eine Glasfachschule, eine Werkschule und die Hochschule für Bildende Künste in Hamburg besucht. Er kann auf eine ganze Reihe von Ausstellungen zurückblicken. Mit einer Akribie, die jede Amtsstube schmücken würde, hat er in dutzenden von Ordnern Artikel aus dem Kölner Express, der Bergischen Landeszeitung, der Rhein-Sieg-Zeitung und dem Generalanzeiger in Klarsichthüllen abgeheftet. Regelmäßig haben die lokalen Zeitungen in den vielen Jahren, die er im Rheinland gelebt hat, über ihn berichtet. Die Ordner hat er in zwei Rollschränken untergebracht und auf einer Reihe von Tischplatten, die auf Holzböcken stehen. Sie nehmen fast das gesamte Zimmer ein. „Das ist fast schon pathologisch“, sagt der Künstler selbst über seinen Ordnungssinn. In den Akten sind seine bunten Ölbilder dokumentiert, die ein wenig an Alice im Wunderland erinnern, seine Textildrucke, Collagen und lustigen Flugobjekte, eine Plastik, die im KZ Sachsenhausen steht, wo sein Vater Häftling war, und die Werke, die er dem Justizministerium verkauft oder dem Deutschen Historischen Museum als Schenkung vermacht hat.
Lentze ist 55 Jahre alt und wirkt jünger. Die Haare sind flott blondiert, er redet unglaublich schnell und schweift immer wieder ab. Unterbrochen wird sein Redefluss nur, wenn er aufspringt, um ein Blatt aus einem Ordner zu ziehen. Er kann so ziemlich alles belegen, was er erzählt. Dabei ist das Wohnzimmer seiner Einraumwohnung im bürgerlichen Charlottenburg, das zugleich Schlafzimmer ist, so klein, dass er sich nur mit Bedacht zwischen den vielen Arbeitstischen bewegen kann. Macht er zu große oder schnelle Sprünge, springt einer der Bewegungsmelder an. Dann röhrt ein Hirsch an der Wand oder singt ein Plüschgorilla auf einem der Tische „He Magdalena“.
Seit etwa zwei Jahren nennt sich Lentze Konzeptkünstler. Das heißt: Er sucht nicht mehr durch seine Werke den Kontakt mit dem Publikum, sondern durch die Konfrontation mit Behörden. Er schickt dem Deutschen Bundestag, EU-Kommissionen, Ministerien, Parteien und Bezirksämtern die abstrusesten Anfragen – und bekommt Antwort. Sein Vorgehen dabei ist denkbar einfach: Er setzt sich an seine alte Olympia und haut in die Tasten.
Ob man es glaubt oder nicht, kein Antrag ist absurd genug, um nicht in aller Gründlichkeit mit einem Aktenzeichen versehen und bearbeitet zu werden. So wie im März dieses Jahres, als er an das Bezirksamt in Berlin-Mitte schrieb und sich nach der Möglichkeit erkundigte, einen Hundepuff zu eröffnen. Inspiriert zu dieser Idee hatte ihn „Karlchen“, eine Mischung aus zwei verschiedenen Terriern, die ihm seine Mutter hinterlassen hat.
Das Wirtschaftsamt der abgebrannten Hauptstadt, immer auf der Suche nach Investoren, behandelte die Anfrage mit gebührendem Ernst. „Nach den Vorschriften der Gewerbeordnung wäre das Betreiben eines Hundepuffs (vgl. einer Zucht) gewerberechtlich ein lediglich anzeigepflichtiger Vorgang, so dass Sie zum Zeitpunkt der Eröffnung des Etablissements einen entsprechenden Vordruck auszufüllen und eine Verwaltungsgebühr von 26 Euro zu entrichten hätten“, antwortete die Behörde. Außerdem nahm Lentze zur Kenntnis, dass ein Getränkeausschank für Herrchen und Frauchen eine erlaubnispflichtige Tätigkeit nach dem Gaststättenrecht sei und Lentze dafür eine Konzession beantragen müsse. Zum Ende des Schreibens stellte das Amt „eindringlich anheim“, sich wegen des „tierischen Aspekts“ mit dem Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamt in Verbindung zu setzen.
Das tat Lentze. Und auch die Amtstierärztin behandelte seine Anfrage mit dem gebotenen Ernst und betrachtete seinen Brief als „Antrag nach § 11 Tierschutzgesetz (BGBI, I S. 1105) zum gewerbsmäßigen Umgang mit Tieren“. „Vorsorglich“ wies die Ärztin darauf hin, „dass grundsätzlich eine Welpenproduktion bei dem herrschenden Überangebot von Hunden in Tierheimen nicht wünschenswert ist“.
Die Hundepuff-Geschichte hat Lentze, der erst im August aus der Eifel nach Berlin gezogen ist, in die Hauptstadtmedien katapultiert. Alle haben sie darüber geschrieben – die einen belustigt, die anderen empört.
Seitdem er in Berlin lebt, deckt Lentze die Zeitungsredaktionen mit Durchschlägen seiner Faxe ein. So wie das an das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Darin beantragte er die Anerkennung von Muttermilch als „freiverkäufliches und zur Weiterverarbeitung zugelassenes Lebensmittel“. Doch statt dieses Anliegen durch den Reißwolf zu jagen, beaufragte Bundesministerin Renate Künast eine Mitarbeiterin, Lentze für sein Schreiben zu danken und ihm zu antworten. „Eine Verwendung von Muttermilch bei der Herstellung von Lebensmitteln entspricht nicht der allgemeinen Verkehrsauffassung“, wurde Lentze belehrt. Als er beim Petitionsausschuss des Bundestages die Einführung beziehungsweise Legalisierung der polygamen Ehe beantragte, wurde unter dem Geschäftszeichen „I A 1 3460 II - 11 897/2003“ eine ausführliche Stellungnahme beim Justizministerium eingeholt. Es kam zu dem Schluss, dass sich „im Familienrecht „bislang kein gesellschaftspolitisches Bedürfnis für die Zulassung einer polygamen Ehe gezeigt hat“.
Manchmal lassen die Adressaten allerdings Paragrafen Paragrafen sein und nehmen die Bälle auf, die Lentze ihnen zuwirft. So wie ein geschäftsführender Referatsleiter der EU-Kommission in Brüssel, der sich normalerweise mit „Kraftfahrzeugen und sonstigen Verkehrsmitteln“ beschäftigt, nun aber Lentzes Antrag auf Integration der Menschenaffen in die menschliche Gesellschaft auf den Tisch bekam. „Trotz intensiver Recherche konnten wir keine Abteilung innerhalb der EU-Institutionen ausfindig machen, die für Ihre sehr weitreichenden, ja geradezu bahnbrechenden Vorschläge und Forderungen zuständig wäre und Sie auf eine europaweite Umsetzung prüfen könnte“, antwortete er Lentze. Und auf seine Anfrage beim Petitionsausschuss des Landtages in Nordrhein-Westfalen, was dagegen spräche, sich nach dem Ableben als Plastinat auf dem eigenen Grab aufstellen zu lassen, bekam Lentze kurzerhand mitgeteilt: „Ihre Idee habe ich – ich hoffe zu Recht – als den Versuch gewertet, auf den in unserer Gesellschaft zügellos auf die Spitze zutreibenden Exhibitionismus mit einer gewissen künstlerischen Lautstärke und Ironie hinzuweisen und die Gesellschaft vorzuführen.“ Rheinländer eben.
Auch als sich Lentze im April vergangenen Jahres beim Unterbezirk Köln der SPD als Fraktionsvorsitzender im Kölner Rat bewarb, bekam er eine Antwort, die von Humor zeugte. Die Sozialdemokraten empfahlen ihm die zahlreichen Kunsthochschulen in der näheren Umgebung. Sollte es dort „wider Erwarten“ nicht mit einer Bewerbung klappen, legten ihm die Genossen „für den ersten Schritt Ihrer künstlerischen Karriere und zum Erwerb erster rudimentärer Befähigungen“ einen Volkshochschulkurs in Seidenmalerei ans Herz. „Möglicherweise hilft ihnen dieser Kurs auch, soziale Kontakte zu knüpfen, was wir Ihnen von Herzen wünschen“, endete das Schreiben. Was die Genossen nicht wussten: Lentze war viele Jahre auf einer Volkshochschule. Als Kursleiter für Drachenbau und Malerei.
In der Tat lebt Lentze sehr zurückgezogen. Bis vor zwei Jahren wohnte er bei seiner Mutter, die ihn auch finanziell unterstützte. Sein wichtigstes Arbeitsgerät, das Fax, kaufte sie, weil er es sich gewünscht hatte. Als sie starb, hinterließ sie ihm ein Haus, und seitdem lebt er von dem Erlös aus dem Verkauf der Immobilie. In Berlin besteht sein Kontakt zur Außenwelt aus den Gassigängen mit seinem Hund und dem Summen des Faxgeräts. Es reicht ihm zu wissen, dass er in einer Großstadt lebt, selbst erleben muss er sie nicht.
Seine Welt sind die Schreiben an die Behörden. An Fantasie mangelt es ihm dabei nicht. Er hat den Papst wegen Anstiftung zur schweren Körperverletzung angezeigt, weil er nichts von Kondomen hält, und bei der Unesco beantragt, neben der Milchstraße auch seine Person als Weltkulturerbe anzuerkennen. Die Begründung: „Ich bin einzigartig auf dieser Welt und etwas ganz Besonders.“ Da kann man Lentze ausnahmsweise nicht widersprechen.
Das Verrückte an seiner „Kunst“ ist, dass er gar keine Antworten auf seine Schreiben erwartet. Machen sich korrekte Beamte die Mühe und informieren ihn über Paragrafen und Verordnungen und legen einen Vorgang an, verschwinden ihre Briefe in einem der zahlreichen Ordner in Lentzes Wohnzimmer. „Um den Vorgang zu beenden“, sagt er. Lentze, der die Behörden aufrütteln, irritieren will, wie er sagt, ist dabei genauso pedantisch wie die Verwaltungsangestellten.
Wer glaubt, dass Lentze wirklich einen Hundepuff eröffnen, Muttermilch verkaufen oder der Polygamie frönen will, irrt. Er umschreibt das Ziel seiner „Konzeptkunst“ mit drei Worten. „Ich will irritieren.“ Lentze grinst. Weil er merkt, dass er das schafft. Und dann fügt er noch einen Satz hinzu, um nicht ganz missverstanden zu werden. „Kunst besteht aus gezielten Provokationen.“
Auch wenn sich in der einen oder anderen Behörde langsam herumgesprochen hat, was er für einer ist, kann Lentze davon ausgehen, dass seine Anfragen auch künftig mit der gehörigen Gründlichkeit bearbeitet werden. Zumindest in der Hauptstadt. Im Wirtschaftsamt, das den Hundepuff-Antrag unter dem Geschäftszeichen WI 300 beschied, erklärt eine Mitarbeiterin, wie generell mit Anfragen umgegangen wird. „Es wird nicht in erster Linie darauf geachtet, worum es geht. Alle Anfragen und deren Möglichkeiten auf Förderung werden geprüft.“ Selbst, wenn man wisse, „das ist der Verrückte mit dem Hundepuff“, würde das bedeuten, „dass wir wieder tätig werden müssen“. Der Grund: „Die Behörde muss reagieren.“ Auf die deutsche Bürokratie ist eben Verlass.