: Der Code der Dirigenten
Der französische Choreograph Xavier Le Roy zeigt in Hamburg eine Tanz-Performance, die auf der Grundlage eines Dirigats von Simon Rattle entstanden ist. Herausfinden will er dabei, ob ein Dirigent wirklich dirigiert – oder selbst von der Musik dirigiert wird
Sie sind die ungekrönten Kaiser. Sie dirigieren weich oder eckig, mit Stab oder ohne: Groß ist die Macht der Dirigenten. In Hamburg ist 2005 die mit wehendem Haar operierende Generalmusikdirektorin Simone Young hinzugekommen. Das kann man schätzen oder nicht – an der Tatsache, dass dem Dirigat ein verbindlicher Code zugrunde liegt, ändert das nichts. Ähnlich hermetisch wie Gebärdensprache, dabei poetischer – ein idealer Stoff für Choreographen, die nach neuen Formen suchen.
Xavier Le Roy ist so einer. Eher zufällig hat er vor Jahren eine Aufnahme von Simon Rattles Dirigat von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ gesehen und war vom Dirigat fasziniert. „Ein guter Keimling für eine Choreographie“, hat er gedacht – und ein Tanzsolo gedichtet, das zwischen Rattle-Kopie und eigener Kreation changiert.
Drei Tage lang ist Le Roy jetzt auf Kampnagel Hamburg zu Gast, und die schwer zu ortenden Schnittstellen zwischen Kopie und Original sind Programm. Zu erforschen, in welche Richtung des Dirigenten Gesten weisen, sie im eigenen Tanz zu reflektieren ist Ziel der Solo-Performance, zu der Strawinsky vom Band ertönt. „Ich will keine Kopie von Rattle, aber ich möchte den Code hinter den Bewegungen entdecken“, sagt Le Roy.
Zudem interessieren ihn Wechselwirkungen, und da verlegt er sich gern mal aufs philosophische Staunen: Stimmt es wirklich, dass der Dirigent dirigiert – oder wird er von der Musik dirigiert? Le Roy will ergründen, ob da eine geheime Symbiose zwischen Dirigent und Musik existiert – ähnlich der, die der Tänzer spürt. Denn was ist der Dirigent anderes als ein Tänzer vor Orchester und Publikum? Einer, der nicht nur mit den Musikern, sondern auch mit dem Unsichtbaren – der Musik – kommuniziert und dem Publikum davon erzählt? „Ich dirigiere in meiner Performance aber nicht das Publikum“, sagt Le Roy. Auch wenn das wie ein Orchester vor ihm sitzen wird. „Ich bewege mich vor dem Publikum. Ich versuche den Zusammenhang von Bewegung und Musik zu ergründen – eher zufällig anhand dieses Stücks.“
Eines Stücks übrigens, das Le Roy eigentlich gar nicht mag. „Ich finde die Musik großartig, die Geschichte aber problematisch. Sie zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die sich darüber definiert, dass sie andere opfert. Damit bin ich nicht einverstanden. Ich hoffe, es gibt auch eine andere Vision.“ Einen anderen Entwurf von Gesellschaft, vielleicht auch dieser Geschichte.
Denn auch das hat sich Le Roy vorgenommen: die Geschichte von Strawinskys Musik wieder abzutrennen, die Symbiose aufzulösen, die seit der Uraufführung 1913 im öffentlichen Bewusstsein nistet. „Man sollte nicht so viel Zeit damit verbringen, die Geschichte immer wieder zu erzählen“, sagt Le Roy. Was er dann auch nicht tut. Er konzentriert sich auf die Kraft der Musik. Auf das Unentdeckte. Und, unvermeidlich, auf das Archaische. Denn wie er es auch wenden mag: Die Tatsache, dass er diese ungeliebte Geschichte trotzdem präsentiert, lässt sich durchaus politisch lesen. Zum Beispiel als Appell, Gemeinschaft nicht mehr durch Ausgrenzung zu definieren.
PETRA SCHELLEN
10. bis 12. Januar, jeweils um 20.30 Uhr auf Kampnagel Hamburg