Der Bullshit-Wort-Check, Folge 7 : „Umstritten“ und „hart arbeitende Bevölkerung“
Was taugen diese Begriffe für das Verständnis der Gegenwart? taz FUTURZWEI-Gastautorinnen testen Standards des politischen Sprechens. Heute: Boris Palmer und Samira El Ouassil.
taz FUTURZWEI | In der heutigen Folge in unserem „Bullshit-Wort-Checks“: BORIS PALMER, Oberbürgermeister von Tübingen, sieht sich selbst regelmäßig mit dem Begriff „umstritten“ konfrontiert. Die Publizistin und Buchautorin SAMIRA EL OUASSIL nimmt den Strohmann der „hart arbeitenden Bevölkerung“ auseinander.
„Umstritten“ (Boris Palmer)
Wie charakterisiert man einen Oberbürgermeister, der dreimal in Folge mit absoluter Mehrheit und landesweit rekordverdächtiger Wahlbeteiligung für eine Amtszeit von insgesamt 24 Jahren gewählt wurde?
Richtig, der ist »umstritten«. Zumindest ist das die häufigste Apostrophierung, die ich in der medialen Berichterstattung über mich vorfinde. Nicht umstritten sind hingegen Bundesfinanzminister Christian Lindner oder Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, zumindest werden sie selten in den Medien so bezeichnet.
Umstritten im ursprünglichen Wortsinn dürfte in der zunehmend fragmentierten deutschen Politik so ziemlich jeder Politiker sein. Die Zeiten, in denen ein Bundespräsident Weizsäcker von nahezu allen Zustimmung erfahren hat, sind lange vorbei. »Umstritten« ist also eine Nullaussage, nicht der Zeilen wert. Tatsächlich wird »umstritten« aber als Distanzierungskennzeichen verwendet. Der Autor oder häufig die woke Autorin will damit ausdrücken, dass der betreffende Politiker mit Vorsicht zu genießen sei, weil er von einem Meinungsmainstream in unangenehmer Weise abweicht. Bedauerlich, dass diese Entwicklung wenig beachtet und so gut wie gar nicht umstritten ist.
taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken
Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?
Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.
U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.
„Hart arbeitende Bevölkerung“ (Samira El Ouassil)
Ob wir nun die „Ärmel hochkrempeln“, den „Gürtel enger schnallen“ müssen oder am besten gleich eine „schwäbische Hausfrau“ werden sollten, notorisch nimmt die parlamentarische Sprache eine entleerende Entpolitisierung in Kauf, vor allem wenn öffentlich über Nichthaben und Noch-weniger-Haben diskutiert wird. Mit dem populistischen Ausdruck der „hart arbeitenden Bevölkerung“ kumpelt man sich an eine heraufbeschworene Idee einer Gruppe von Menschen an, die sich durch eine besondere körperliche professionelle Hingabe auszeichnet. Wer aber die „hart Arbeitenden“ im Vergleich zu den damit auch in Abgrenzung gezeichneten „weich Arbeitenden“ genau sein sollen, wird praktischerweise nicht klar.
Relevanter ist, wann sich politisch an sie erinnert wird: um Beschlüsse zu kritisieren, welche die angeblich weich Arbeitenden und Unbeschäftigten bevorzugen würden, wie zum Beispiel Bürgergeldempfangende oder Asylsuchende. Mit dem meritokratischen Märchen von der erstrebenswerten „harten Arbeit“ wird eine Hierarchie der menschlichen Wertigkeit suggeriert, welche die Ungerechtigkeit des Kapitalismus durch Gruppengefühligkeiten erträglicher machen soll. Dabei bedeuten weder „viel“ noch „harte“ Arbeit automatisch mehr individuellen Wohlstand. In etlichen Bereichen können Menschen physisch noch so hart arbeiten, ohne mehr oder überhaupt etwas zu verdienen. Die betuliche Bürgernähe, die hier politisch performt wird, wenn in der Fiktion dieser undefinierten Disziplinierten eine Ungerechtigkeit beklagt wird, will so sehr glauben machen, sie hätten etwas mit den Lebenswelten der Bürger:innen zu tun, dass man sie fast schon als harte Arbeit bezeichnen müsste.
Mehr Bullshit-Wort-Tests finden Sie in der neuen taz FUTURZWEI-Ausgabe „Weiterdenken“ und an dieser Stelle auf taz.de.
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