: Der Brutkasten als Konzertsaal
Frühgeborene brauchen nicht nur medizinische Versorgung, sondern alles, was Babys sonst auch bekommen: Anregung, Kontakt, Zuwendung. Musiktherapien helfen eine möglichst enge Beziehung zwischen Eltern und dem Baby aufzubauen
VON LUTZ DEBUS
Jonathan ist nun vier Tage alt. Eigentlich aber ist er noch viel jünger. In der 28. Schwangerschaftswoche brachte seine Mutter ihn zur Welt. Dies ist dank moderner Intensivmedizin keine Katastrophe. Aber doch sieht Jonathan sehr zerbrechlich aus. Dieses winzige Menschlein liegt in einem gläsernen Kasten. Die Schläuche und Kabel, die es umgeben, wirken wie Fremdkörper.
Direkt neben Jonathan steht ein Turm blinkender und summender Apparate. Ohne diese könnte das Baby noch nicht leben. Von Zeit zu Zeit dringt ein laut hupendes Alarmgeräusch bis in das Schwesternzimmer. Sofort kommt eine Mitarbeiterin, bewegt den Kasten, bewegt das Kind. Es atmet wieder weiter.
Diese Praxis entspricht dem Alltag auf Neugeborenen-Intensivstationen. Dort liegen Kinder, die um Wochen und Monate zu früh auf die Welt gekommen sind. Sie sind meistens nicht krank, wohl aber zu unreif und zu verletzlich, um ohne intensivmedizinische Hilfe zu wachsen und zu überleben.
Frühgeborene sind per Definition Babys, die vor Vollendung der 36. Schwangerschaftswoche geboren worden sind. In Deutschland sind das 6 Prozent aller Lebendgeborenen, also jährlich etwa 40.000 Kinder. Die Tendenz ist steigend, vor allem der Anteil derjenigen, die unter 1.000 Gramm bei ihrer Geburt wiegen. Dank moderner Technik können etwa Babys ab der 23. Schwangerschaftswoche überleben. Allerdings, so fragen sich immer mehr Eltern und auch Fachleute, genügt die rein körperliche Versorgung? Wären diese Babys zum vorgesehenen Termin zur Welt gekommen, so hätten sie länger einen intensiven Kontakt zur Mutter und somit eine andere Wahrnehmung der Umwelt erfahren. So stehen sie inmitten der Medizintechnik in permanentem Stress. Bluthochdruck, hoher Puls und flache, schnelle Atmung sind die Folge.
Schon in den Siebzigerjahren versuchte Harald Schachinger, mittlerweile Chefarzt der Kinderklinik des Waldkrankenhauses Berlin-Spandau, an dieser technisierten Lebenssituation Frühgeborener etwas zu verändern. Er brachte in die Frühgeborenenstation einen Kassettenrekorder mit. Dieser wurde von den anderen Mitarbeitern misstrauisch bis ablehnend beäugt. Absolute Sterilität genoss zu jener Zeit höchste Priorität.
Er spielte einigen Frühgeborenen Vivaldi und Mozart vor. Dadurch, dass diese Kinder sowieso in all ihren Lebensfunktionen überwacht wurden, waren die Folgen dieses Musikerlebnisses sofort sichtbar. Herzschlag und Atmung wurden ruhiger und konstanter, die Schlafphasen wurden länger und tiefer. Die Entwöhnung vom Atemgerät gelang eher und problemloser.
Dreißig Jahre schon wendet Schachinger verschiedene Klänge bei der Behandlung Frühgeborener an. Versuche mit Rockmusik zeigten, dass die Kinder zunächst eher gestresst reagierten, dann aber eine Gewöhnung auftrat und so Heavy Metal letztlich ähnlich wirkte wie Brahms oder Haydn.
Bei den Untersuchungen während der Spätschwangerschaft wurden die Herztöne der Mutter aufgenommen und später dem Baby vorgespielt. Besonders in den ersten vier Lebenswochen zeigen sich sehr beeindruckende Ergebnisse. Schachinger formuliert es salopp: „Je jünger sie sind, umso mehr fahren sie darauf ab.“ Er bittet inzwischen Eltern, die Alltagsgeräusche, die das Baby während der Schwangerschaft hörte, auf Band aufzunehmen. So gibt es statt klassischer Musik zuweilen Geschirrklappern, Kinderstimmen und Hundegebell zu hören.
All diese Beispiele beschreiben einen eher funktionellen Einsatz von Klängen und Musik. Die Musiktherapeutin Monika Nöcker-Ribaupierre ist Leiterin des Instituts für Musiktherapie des Freien Musikzentrums München. Sie legte ihr Augenmerk mehr darauf, was zwischen dem Baby und den Eltern geschieht. Eine Frühgeburt ist immer eine Stresssituation sowohl für das Kind wie auch für die Eltern. Angst um Leben und Gesundheit dominieren in dieser Situation. Manche Mutter plagt sich mit Schuldgefühlen: „Ich bin nicht fähig gewesen, mein Kind lange genug bei mir zu haben!“
Auch ist die Bindung zwischen Mutter und Kind noch nicht so ausgebildet. Die Eltern haben eigentlich nicht so früh mit ihrem Kind gerechnet, sind emotional noch schwanger. Hier will der eher psychotherapeutische Ansatz von Monika Nöcker-Ribaupierre helfen, Kontakt zwischen dem Kind und der Mutter zu stiften. Dies gelingt vornehmlich durch die Stimme der Mutter. Mütter lesen Geschichten vor, sprechen einfach so zu ihrem Baby. All das, was anderen Eltern selbstverständlich erscheint, für Frühgeborene auf der Intensivstation, umgeben von tutenden Maschinen und zitternden Eltern, ist dies eine außergewöhnliche Wohltat.
Die Stimme der Mutter wird aufgenommen und dem Kind mehrmals täglich für 15 bis 30 Minuten vorgespielt. Studien belegen, dass mit Hilfe dieser Methode die Mütter ein positiveres Verhältnis zu ihren Kindern aufbauen, es zum Beispiel länger stillen. Die Kinder entwickelten sich im Vergleich zu anderen Frühgeborenen deutlich besser. Langzeitstudien belegen, dass Frühgeborene, die die Stimme ihrer Mutter quasi als Medizin verabreicht bekamen, im Grundschulalter eine deutlich bessere Sprachentwicklung aufweisen. Das Wort „Muttersprache“ trifft also tatsächlich ins Schwarze.
Noch einen Schritt weiter ging der Musiktherapeut Markus Pohl aus Östringen. Er musizierte im Waldkrankenhaus Spandau mit Eltern und Kindern gemeinsam. Das kleine gemeinsame Konzert begann mit einem Begrüßungslied. Und dann spielte Markus Pohl oft Cello, aber auch exotische Instrumente, die ansonsten die Eltern spielten. Nach eher zögerlichen, tastenden Versuchen der Spielenden stellte sich schnell ein intensives Bezugnehmen auf den anderen ein.
Ein gemeinsames Tempo, eine miteinander abgestimmte Lautstärke, sich ergänzende Melodielinien der verschiedenen Instrumente, all dies geschah, ohne dass die Musikanten zuvor oder gar währenddessen ein Wort wechselten. Dies vermittelte den Anwesenden ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Manchmal bewegte sich das Baby zur Musik, tanzte dazu oder machte gar laut vernehmliche Geräusche, sang mit. Dieses kleine Kammerkonzert im und um den Brutkasten sollte den Grundstein legen für die tägliche Hausmusik namens Familienleben.
Die hier dargestellten Methoden konkurrieren übrigens nicht miteinander. Vieles ist kombinierbar. So ist sogar eine zeitliche Reihenfolge sinnvoll. In den ersten Wochen scheint das Hören der Stimme und des Herzschlags der Mutter besonders wichtig zu sein. Mozart und Co. mag man als Stellvertreter akzeptieren. Und wenn die Frühgeborenen schon richtig groß geworden sind, in der zweiten Hälfte der stationären Behandlung, ist ein gemeinsames Spiel mit den Eltern doch eine altersentsprechendere Beschäftigung.
Bei all den nachgewiesenen Erfolgen verwundert es, dass die musiktherapeutische Behandlung von Frühgeborenen nicht zum medizinischen Standard in diesem Land zählt. Die hier beschriebenen Beispiele wären ohne das Engagement Einzelner nicht möglich gewesen und sind bislang die Ausnahme in Frühgeborenen-Intensivstationen. Dabei ist doch jeder Brutkasten ein potenzieller Konzertsaal.