: Der Bombast des Herrn
Introibo ad altere dei: Die Shows der isländischen Band Sigur Rós gleichen einer katholischen Messe. In Berlin verwandelten sie vor den Augen ihres weihevoll gestimmten Publikums gleich Wein in Blut
von ANDREAS HARTMANN
Vor langer, langer Zeit gab es mal etwas, das nannte sich Punk. Als Punk passierte, waren die Musiker von Sigur Rós teilweise noch nicht einmal geboren. Deshalb wissen sie vielleicht auch gar nicht, was der Auslöser für die damals neue Jugendbewegung war. Nämlich das Hassen von Gruppen wie Pink Floyd oder Genesis – also von Bands wie Sigur Rós, die mit ihrer Musik lieber über den Wolken schwebten, als die Probleme des schnöden Alltags zu thematisieren.
Der Auftritt der isländischen Band in Berlin verkörperte dann auch alles, was man verachtenswert finden muss, wenn man den Rock-’n’-Roll-Urschrei „AWopBopaLooBopALopBamBoom“ für eine kulturelle Errungenschaft hält und außerdem Musik ablehnt, die sich aus mehr als drei Akkorden zusammensetzt. Der Sänger von Sigur Rós bespielt seine Gitarre nicht wie im Rock ’n’ Roll üblich mit Fingern, Zähnen oder Zunge, sondern mit dem Geigenbogen, das sagt ja schon alles.
Wie Radiohead, Godspeed You Black Emperor! und ähnliche weihrauchbehangene Bands, bei deren Nennung schnell das Wörtchen „Kunst“ fällt und die ihre Auftritte in Kirchen oder wenigstens für Sitzende stattfinden lassen müssen, weil man das als Angehörige des Popadels eben so macht, lieben es auch Sigur Rós gern extravagant. Das Berliner Konzert fand in der riesigen „Arena“ statt, die ihren Namen nicht umsonst trägt. Es gab ausschließlich Sitzplätze, hinten die billigen mit freier Platzwahl, vorne die teuren Nummerierten. Nur eine Garderobe und Sektempfang fehlten noch.
Wer sich noch einmal vergegenwärtigen hätte wollen, wie wenig heutzutage Pop automatisch Gegenkultur bedeutet, hätte diesem Auftritt beiwohnen müssen. Es ging hier so rebellisch zu wie beim katholischen Kirchentag. Ein wenig war es auch wie im Kino, auf der Premierenfeier; alle schienen einigermaßen aufgeregt, man tuschelte, verstummte aber beinahe ganz, als dann das Licht ausging und die auf die Bühne kommende Band illuminiert wurde.
Von Anfang an hatten die enigmatischen Isländer die riesige Halle voll im Griff. Ihre Musik soll überwältigen, und sie tat es. Gesungen wird bei Sigur Rós auf isländisch und teilweise in einer Kunstsprache, für Freunde von „Herr der Ringe“ ging es also mystisch genug zu. Die Lightshow erinnerte gelegentlich an Lichtdome, wie sie die Nazis so schätzten, und im Hintergrund liefen Projektionen, auf denen blond gelockte Mädels in ästhetisch wertvollen Posen zu sehen waren – mit ein wenig Nazikitsch lassen sich die Gemüter eben immer noch bestens weihevoll stimmen.
Fortan war im Publikum nur noch leises Flüstern angesagt. Andernfalls lief man Gefahr, von einem völlig entrückten Hobbitfan mit gläsernen Augen gemaßregelt zu werden. Ein wenig fürchtete man auch dessen Ruf nach dem Ordner, und selbst auf den teuren Plätzen wurde das Klimpern mit den Perlenketten unterlassen.
Es gibt keine andere Band, die so klingt wie Sigur Rós. Was auch daran liegt, dass sie aus Island kommt, was trotz Björk immer noch selten ist im Popbusiness. Wie zwei andere derzeit immens populäre melancholische Acts, Calexico und die ehemalige Portishead-Sängerin Beth Gibbons, klingen auch Sigur Rós nach ihrer Heimat. Calexico wollen ihr Leben in Tucson, Arizona, musikalisch umsetzen, nach Wüste und einer Nähe zu Mexiko klingen, Beth Gibbons nach einem regennassen Bristol und Umgebung, und Sigur Rós hemmungslos nach all den Islandklischees von einer erhabenen Landschaft, angesichts derer der Mensch sich klein und mickrig fühlt. Der Erfolg all dieser Acts belegt einmal mehr, dass in Zeiten der Globalisierung das Lokale eine Wiederauferstehung feiert.
Sigur Rós haben eine ganz bestimmte Masche, um das „typisch Isländische“ in ihrer Musik zu erzeugen. Tricks, die sie auf ihrem Konzert ausreizten, bis der Zuhörer endgültig platt gemacht wurde und nur noch um Gnade winseln konnte. Sigur-Rós-Stücke sind keine Songs mit Strophe und Refrain und knackigem Part zum Mitpfeifen, sondern ausufernde, kunstfertige Epen mit enormen Dynamiken, von denen man emotional durchgeschüttelt wird. So wand man sich beim Konzert dann auch in der Erhabenheit des Streicherbombasts, bekam Gänsehaut von diesem Gesang eines Jünglings im Falsett, dessen Auftritt so antimacho war, dass man endgültig daran zweifelte, auf einem Rockkonzert zu – sitzen.
Die besten Momente der Show, die gelegentlich nah an der Liturgie einer echten Messe war – samt Kirchenorgelsound –, konnten magisch genannt werden. Völlig in das Geschehen auf der Bühne kontemplativ zu versinken funktionierte jedoch oftmals auch nicht. Was einmal daran lag, dass trotz der Disziplinierung des Publikums der Bierstand offen hatte und Durstige sich natürlich gerade im ergreifendsten Moment, etwa als Wein in Blut verwandelt wurde, durch die Sitzreihen drängeln mussten. Außerdem war der Sound, was bei Bombastpop dieser Sorte schnell tödlich sein kann, teilweise so breiig, dass man nur schwer in die erwünschte sakrale Stimmung fand. Und wenn man dann erst wieder bei sich war und den Kontakt mit den Erdgeistern Islands verloren hatte, konnte es leicht passieren, dass man den Platz in der Kirchenbank verließ und an die Bar stapfte. Man hatte schon genug gebetet an diesem Abend.