: Der Blick nach draußen
Carsten Dietsch, 29 Jahre alt, Autist: Als Sechsjähriger hat er aufgehört zu sprechen. Heute würde er am liebsten Abitur machen ■ Fotos und Texte von Andreas Teichmann
Carsten schweigt. Carsten schweigt seit 23 Jahren. Das letzte Wort, das seine Eltern von ihm hörten, war „Auto“. Da war er sechs Jahre alt. Bis dahin hatte er stockend gesprochen, mit dem Wörtchen „ich“ wußte er nichts anzufangen. Die Diagnose stellte ein Münsteraner Professor: Autismus, eine schwere Verhaltensstörung. Autistische Menschen ziehen sich ganz von der Außenwelt zurück. Manche verstummen völlig, wie Carsten. Ihrer Umgebung fällt es schwer, ihre Botschaften zu entschlüsseln.
Carsten kam auf eine Schule für geistig Behinderte und besuchte sie, bis er 23 war. Seit fünf Jahren arbeitet er in einer Behindertenwerkstatt. Er lebt bei seinen Eltern in Essen, in einem Reihenhaus. Im Garten steht seine Schaukel. Seine Mutter betreut ihn, sie hilft ihm beim Baden, Anziehen, schmiert ihm die Butterbrote, gibt ihm morgens und abends pünktlich auf die Minute seine Medikamente.
Carsten Dietsch, der Autist: So lernte ich ihn kennen, als ich im Sommer 1993 für zwei Monate einer seiner Betreuer war. Eine Urlaubsvertretung. Wir gingen spazieren, fuhren Straßenbahn, wir gingen schwimmen, waren im Garten, im Zoo. Zwei Nachmittage in der Woche mit einem erwachsenen Mann, der kein Wort mit mir redete, der mich kniff, bis meine Fingerkuppen bluteten. Ein Mann, der sich an der Straßenbahnhaltestelle ins Gras legte. Und mit einem unheimlich schönen Lächeln wieder aufstand. Einer, der stundenlang seine Finger gegen den Daumen preßte. Der sich selbst schlug, heftig, unempfindlich für Schmerz. Ein Autist, über den ich nur wissen konnte, was mir erzählt wurde. Ich lernte, Zustimmung oder Ablehnung in seinem Mienenspiel zu lesen, lernte, daß ein heftig hervorgestoßenes „Ayayayay“ Freude ist.
Zwei Jahre später rief seine Mutter mich an: Carsten schreibt! Sie hatte von der Methode der gestützten Kommunikation gelesen und mit Carsten an einer Buchstabentafel zu üben angefangen. Erstmals seit 23 Jahren konnte er „reden“. Lesen und Schreiben, glauben seine Eltern, hat er sich selbst beigebracht, beim Fernsehen mit dem Vater. Es dauerte Wochen, bis sie eine seiner wichtigsten Nachrichten wirklich erfaßten: Ihr Sohn will Abitur machen.
Carsten hat sich verändert. Er drängt, er will weiterkommen. Er ist weniger aggressiv, seltener geht sein Blick ins Nichts. Die Frage stellte seine Mutter: Darf Andreas dich fotografieren? Carsten zeigte auf seine Buchstabentafel: „Ja“.
Andreas Teichmann ist 26 Jahre alt und studiert Fotografie an der Folkwang-Schule in Essen.
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