■ Wühltisch: Der Bisley- Container
Die Beliebtheit von Aktenablagebehältern in Wohnungen von Lehrern, Sozialarbeitern und Freiberuflern verdient in der Zivilisation der Arbeitslosigkeit gesteigerte Aufmerksamkeit. Neben stählernen Ganzwand-Regalsystemen, die das schlichte Ivar-Modell von Ikea in die Heimwerkerkeller verbannt haben, repräsentiert der Bisley-Container in verschiedenen Farben, Formaten und Fachgrößen das Möbelstück, das die Büroisierung des Wohnzimmers eingeläutet hat. Gummierstift, Edelchromlocher und drehbarer Karteikartenhalter als offenes Adreßbuch bestätigen diesen Trend.
Bevorzugt findet man den Ablagenschrank als farblos lackiertes Modell, worauf die Schweißnähte deutlich hervortreten. Das läßt unmittelbar den Produktionsprozeß erkennen und verweist so auf eine asketische Moral, in der es kaum einen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Denn die eigentliche Arbeit des Berufstätigen beginnt schließlich erst nach Feierabend, und das Projekt der Selbstverwirklichung duldet ohnehin keine Pausen. Die Bisleys dienen zuhauf dem Engagement für Verein, Politik und Ökogruppe.
Gegen die robuste Schwerfälligkeit der Kommodenlade fasziniert die Leichtigkeit, mit der sich die Bisley-Fächer aufziehen und zuschieben lassen. Zwar kann man unter den schlicht gebogenen Stahlgriffen Sortierschildchen einschieben, die einen schnellen und direkten Zugriff ermöglichen, aber die reibungslos funktionierende Mechanik verlockt zum suchenden Aufziehen.
Trotz seiner evidenten Nützlichkeit beherbergt der Bisley nicht zuletzt das Chaos des Privaten. Briefmarken, Büroklammern, Sozialversicherungsausweis und Krankenkassen- Scheckkarte liegen im flachen oberen Fach, darunter sammeln sich Dokumente und Zeugnisse des Lebenslaufs, die man aktuell nicht benötigt, die aber trotzdem aufbewahrt werden müssen. In der unteren Hälfte – beim klassischen Modell wächst das Fachvolumen von oben nach unten – ist Platz für Erinnerungsstücke. Das ornamentfreie Blech der Rationalität birgt daher auch bevorzugt Sentimentales.
Die schmucklose Truhe war schon als Grundelement der mittelalterlichen Einrichtung tief in einer nomadischen Kultur verwurzelt. Denn Möbel war alles, was auf der Flucht nicht auf der Immobilie zurückgelassen werden sollte. „Truhen konnten gleichzeitig als Reisekoffer benutzt werden, (...) man war immer auf dem Sprung“, schreibt Siegfried Giedion in seiner Studie „Die Herrschaft der Mechanisierung“. Mit der Stabilität der Lebensverhältnisse wuchs allerdings auch die Ausdifferenzierung der Einrichtungsgegenstände. Die Schublade erscheint demnach als bewegliche, verkleinerte Truhe, die zunächst zur Aufbewahrung von Reliquien und kirchlichen Dokumenten diente, ehe sie in den Schreibstuben beherrschend wurde. So versteht man denn das Wesen jeglicher Bürokratie vielleicht besser, wenn man sich deren sakralen Ursprung vor Augen führt: Der Ordnungssinn des Pragmatikers, er riecht nach Weihwasser.
Harry Nutt
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