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■ Der Artikel 16 Grundgesetz bleibt, nur die Flüchtlinge nichtDer Vorteil der Mitte Europas

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat gekämpft und – gesiegt. Trotz jahrelanger Polemik gegen diesen Artikel im Grundgesetz hat die SPD einen der Kernsätze der Verfassung Nachkriegswestdeutschlands in die Zukunft gerettet. Die Anerkennung aller guten Menschen der Republik ist ihr gewiß, denn zusätzlich zu dem guten Gefühl, welches soviel moralische Standfestigkeit ja immer vermittelt, hat die jetzt präsentierte „Lösung des Asylproblems“ noch den Vorteil, den Mann auf der Straße nicht über Gebühr zu strapazieren. Ist der Vier-Parteien-Kompromiß erst einmal Gesetz und der dazugehörige bürokratische Apparat auf Touren gebracht, wird sich jedoch herausstellen: Politisch Verfolgte im Sinne des Grundgesetzes gibt es in Deutschland gar nicht mehr.

Nach dem Motto, was lange währt, wird endlich gut, ist das Ei des Kolumbus jetzt gepellt: Die sogenannten Gesinnungsethiker können sich das Grundgesetz weiterhin übers Bett hängen, und die Pragmatiker sorgen trotzdem dafür, daß Deutschland flüchtlingsfrei wird. Wenn jemals ein Kompromiß das Adjektiv faul verdient hat, dann dieser. Faule Kompromisse stinken bekanntermaßen, und der Geruch dieser Einigung wird innen- wie außenpolitisch Brechreiz provozieren. Das Signal nach innen ist: Wir zeigen, wie man mit der Verfassung Etikettenschwindel betreiben kann, und schaffen damit die richtigen Grundlagen für den so oft geforderten Verfassungspatriotismus. Von dem Paket, das der SPD-Parteitag so wasserdicht geschnürt zu haben glaubte, ist materiell nicht mehr übriggeblieben, als die CDU ohnehin zu akzeptieren bereit war. So war die vorübergehende Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen angesichts der täglichen Bilder aus Bosnien nicht wirklich strittig, und die Rechtswegegarantie hilft keinem Flüchtling, wenn er erst gar keine Chance hat, ins Land zu kommen. Zukunftsweisend ist vor allem auch, daß die große Koalition des Bundestages sich weiterhin weigert anzuerkennen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist, und dies gegenüber bereits Eingewanderten und zukünftigen Einwanderern auch anzuwenden. Damit hat die SPD-Verhandlungskommission, aus Gründen, die sie vielleicht demnächst ihrer Partei erklären muß, das Kernstück einer neuen Politik verschenkt.

So problematisch der Begriff von der Steuerung der Einwanderung ist, durchgesetzt haben sich die totalen Abblocker. Auch ein noch so begrenztes Angebot an Menschen, die den legitimen Wunsch haben, an dem Reichtum Westeuropas zu partizipieren, wird es nicht geben. Damit wird erneut verhindert, daß die Bevölkerung endlich beginnt, sich mental darauf einzurichten, daß Deutschland keine Wohlstandsinsel in einer immer ärmer werdenden Welt bleiben kann. Die Weihnachtsbotschaft aus der baden-württembergischen Landesvertretung an die „Menschen draußen im Lande“ lautet: Bleibt bei euren (zuweilen mörderischen) Illusionen.

Außenpolitisch zeigt das größer gewordene Deutschland erneut wenig Sensibilität für seine Nachbarn. Nachdem zuerst die Kosten der Einheit über hohe Zinsen auf das restliche Europa abgewälzt wurden, sollen nun die armen osteuropäischen Länder an der Peripherie der EG als Auffanglager für die noch Ärmeren und auch die politisch Verfolgten aus dem Osten dienen. Die Bundesregierung wird großzügig anbieten, Polen und der ČSFR bei deren Flüchtlingsproblem zu helfen: Angesichts des vorhandenen Wohlstandsgefälles zwischen Polen und selbst den ärmsten Regionen Ostdeutschlands ein Zynismus, der für polnische Politiker, einschließlich der Regierungschefin Helena Sukowa, um so schwerer wiegen dürfte, als ihnen immer wieder versichert worden war, alles für den Abbau dieses Gefälles tun zu wollen. Mit der Argumentation, schließlich müsse man auch einmal davon profitieren, in der Mitte Europas zu liegen, begründete die Spitze der Union ihren jetzt akzeptierten Vorschlag, künftig sämtliche Nachbarstaaten für die Durchsetzung der deutschen Flüchtlingspolitik in Anspruch zu nehmen. Wenn dann kaum noch ein Flüchtling nach Deutschland gelangt, kann Bonn im Rahmen einer internen europäischen Umverteilung großzügig Aufnahmekapazitäten anbieten.

Vielleicht hat die SPD-Führung sich in dieser gnadenlosen Politik der Solidarität mit den eigenen Wählern aber auch verkalkuliert. Immerhin haben am selben Abend, an dem die etablierte Politik das Grundgesetz auf ihre Art rettete, mitten in Bayern trotz Streibl, Waigel und Gauweiler mehr als 300.000 Leute gezeigt, daß sie etwas anderes wollen als die flüchtlingsfreie Einkaufspassage am langen Samstag. Jürgen Gottschlich

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