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: Der Altar leuchtete golden

Kurz vor Weihnachten ist mein Onkel gestorben, mit 88, nach kurzer Krankheit und unerwartet, wie es in Traueranzeigen oft heißt. Ich hatte noch gehofft, dass Flixbus fahren würde, weil ich keine Online-ID hatte, die man zum Bahn-Fahrkartenkauf im Internet braucht, und ging zur Post, um mir diese Online-ID zu besorgen. Die Frau am Schalter gab mir ein Formular und sagte, dass es ein paar Tage dauert, bis die Online-ID da ist. Mir war dann eingefallen, dass es immer noch Bahnfahrkartenautomaten gibt und alles kein Problem ist.

Komisch, zum ersten Mal während der Pandemie Bahn zu fahren. Es fühlte sich auch an wie Weihnachten, weil ich doch Weihnachten immer zu meiner großen Schwester gefahren war. Ich sitze mit meiner weißen Vogelmaske allein im Abteil des tschechischen Zugs und lese „The Stranger in the Woods – The extraordinary Story of the Last True Hermit“ von Michael Finkel; ein prima Buch, das von einem Mann erzählt, der sich mit Anfang zwanzig, 1986, ohne besonderen Grund, entscheidet, wie weiland H. D. Thoreau in den Wäldern von Maine zu leben. Verglichen mit Christopher Knight war Thoreau ein Amateur.

Der berühmte Autor von „Walden“ lebte ein paar Monate in den Wäldern und ließ seine Klamotten von der Mutter waschen; Knight verbrachte fast 30 Jahre allein in der Wildnis und benutzte aus Furcht vor Entdeckung nie Feuer. Mehr als tausendmal brach er in Ferienhäuser in der weiteren Umgebung ein, wobei er sich bemühte, möglichst wenig Schaden anzurichten. Immer nahm er auch Zeitungen, Magazine und Bücher mit. 2012 wird er geschnappt und in die Gesellschaft zurückgezwungen.

In Lübeck aßen wir mit Entfernung zu dritt an zwei Tischen. Jede halbe Stunde wurde gelüftet. Vor dem Einschlafen rauchte ich eine Zigarette am Kippfenster und schaute auf die Fenster der andern Menschen.

Am nächsten Tag saßen wir mit 30 Leuten in der Segeberger Marienkirche, die vor 800 Jahren wohl für 1.000 gebaut worden war. Ein Sänger sang, die Orgel spielte, der Altar leuchtete golden. Jesus am Kreuz sah sehr blass aus; das war mir schon als Kind aufgefallen. Die Pastorin und dann seine Söhne erzählten vom Leben meines Onkels. Es regnete. K. und ich fanden, dass die sechs Sargträger sehr gut aussahen mit ihren schwarzen Masken.O. war das zu düster. Er trug eine rote Jeans und wünscht sich Sargträger in bunten Kleidern zu seiner Beerdigung. Kurz nur standen wir am Grab. Ein Zusammensein danach war ja nicht möglich.

Weil keine Zeit mehr war, war ich am nächsten Tag ohne Fahrkarte in die Re­gionalbahn gesprungen. Ich hatte an dies Glücksgefühl gedacht vor x Jahren, als ich in ähnlicher Situation nicht kontrolliert worden war. Kurz vor Büchen kam doch der Schaffner. Mir war es peinlich, weil er so nett schien. Er fragte noch, ob ich selten Bahn fahre und nicht wisse, dass man sich melden müsse, wenn man keine Fahrkarte hat. Ich sagte, ich wäre in den letzten Jahren nicht Bahn gefahren, hätte aber früher oft eine Bahncard gehabt, die ich kaum benutzt hatte. Er berechnete mir nur die Fahrkarte, ich freute mich und entschuldigte mich.

Als ich am Nachmittag von Heiligabend einkaufen wollte, waren die Supermärkte schon zu. Den halben Tag spiele ich Onlineschach. Der Gottesdienst im Fernsehen gefällt mir nicht so gut. Der Papst ist schon fertig, als ich die Liveübertragung von Vatikan-TV anmache. Dunkel und leer ist der Petersplatz in der heiligen Nacht. Ab und zu nur Laser­pointer. Detlef Kuhlbrodt