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Der 9.November und die DeutschenTag der Greuel, Tag des Umbruchs

■ Immer wieder der 9.November: 1918 rief Liebknecht die Republik aus, 1989 fiel die Mauer. Der 9.November 1938 steht für eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte — die Reichskristallnacht, zu der ein gewisser Herschel Grynszpan den Vorwand lieferte.

Am heutigen 9.November wird der Schriftsteller Lutz van Dick in der Hamburger Friedenskirche zur „Reichskristallnacht“ sprechen, „weil diese nicht in Vergessenheit geraten darf“. Sein Thema wird hauptsächlich Herschel Grynszpan sein, dessen Attentat auf den Sekretär der deutschen Botschaft in Paris von den Nazis als Grund für die „spontane Antwort der empörten Bevölkerung“ benutzt worden war. Im Frühjahr werden die Dreharbeiten zu einem neuen Dokumentarfilm über Grynszpan beginnen, in dem Lutz van Dick die Regie führt.

Herschel Grynszpan, Sohn eines armen jüdisch-polnischen Schneiders, wurde 1921 in Hannover geboren. Der Halbwüchsige wird in der Schule oft geschlagen, bevor er im jüdischen Sportklub zu boxen beginnt.

Tödliches „Dokument“

Im Sommer 1936 überquert Grynszpan illegal die französische Grenze. In Paris nehmen ihn Verwandte auf. Er hilft im Haushalt und in der Werkstatt. Sein einziger Freund ist ein jüdischer Junge, Nathan Kaufmann. Die beiden besuchen unter anderem die Gaststätte „Tout va bien“, einen bekannten Treffpunkt für Homosexuelle, den auch ein „Typ von der deutschen Botschaft“ besucht. Da er keine Aufenthaltserlaubnis bekommt, versucht er schließlich zu den Eltern zurückzugehen, aber in Deutschland ist er unerwünscht. Nach Palästina einzureisen, hat er als Minderjähriger ohne Beruf ebenfalls keine Chance.

Ende Oktober liest er in der 'Pariser Haint‘ entsetzt, daß die Gestapo alle polnischen Juden in Deutschland verhaften und umgehend in Sonderzügen über die polnische Grenze abschieben will. Etwa 12.000 von ihnen werden später in Schuppen, Scheunen und Zelten an der Grenze untergebracht.

Am 3.November bekommt er eine Postkarte von seiner Schwester Berta. Die ganze Familie Grynszpan ist vertrieben worden. „Wir haben keinen Pfennig“, schreibt Berta. „Könntest Du uns nicht etwas nach Lodz schicken?“ Herschel kann kaum atmen, als er diese Nachricht bekommt. „Die bringen meine Familie um!“ schreibt er an van Dick. Um die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, welche Verbrechen die Deutschen den Juden antun, entscheidet er, Rache zu nehmen.

Am 7.November 1938 vormittags erscheint Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris. Er verlangt einen der Botschaftssekretäre zu sprechen, da er „ein wichtiges Dokument“ zu übergeben habe. Als Sekretär Ernst vom Rath ihn in seinem Büro empfängt und nach dem Dokument fragt, zieht Grynszpan eine Pistole und sagt: „Nun übergebe ich Ihnen im Namen von 12.000 schikanierten Juden das Dokument“, und feuert fünf Mal. Zwei Schüsse treffen vom Rath. Grynszpan stellt sich einem französischen Polizisten.

Prozeß aus Furcht verschoben

Inzwischen bereitet man in Berlin das „spontane“ Progrom gegen die Juden vor. Als vom Raths Tod am 9.November, 16.30 Uhr bekannt wird, spricht Propagandaminister Goebbels von Rache. Die SA gibt Befehle, an den zerstörten Synagogen Schilder anzubringen mit dem Text: „Rache für den Mord an vom Rath!“ Der Feuerwehr wird untersagt, sich einzumischen und alle Zeitungen werden unterrichtet, wie sie zu berichten haben. „Synagogen haben sich selbst entzündet.“ Die Berichte dürfen nicht auf der ersten Seite erscheinen und müssen ohne Fotos abgedruckt werden.

Die Ergebnisse dieser Pogrome: 191 Synagogen und 171 Wohnhäuser wurden in Brand gesteckt, über 7.500 Geschäfte geplündert, über 26.000 Juden wurden festgenommen. Als Sühne für „die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich“ müssen die Juden eine „Kontribution“ von einer Million Reichsmark an das Deutsche Reich zahlen. Außerdem müssen sie alle Schäden auf eigene Kosten reparieren.

Als sich die Wehrmacht Paris nähert, wird Grynszpan mit anderen Häftlingen zusammen Mitte Juni 1940 nach Orleans und Bourges verlegt. Dort wird er freigelassen. Krank und fast verhungert, meldet er sich aber von selbst wieder im Gefängnis Toulouse. Obwohl es keine rechtliche Grundlage dafür gibt, liefert die Vichy-Regierung Grynszpan an die Nazis aus. Er wird nach Berlin-Moabit gebracht.

Mitte Januar 1942 soll der Schauprozeß gegen Grynszpan und das „hinter ihm stehende Weltjudentum“ beginnen. Das Urteil steht von Anfang an fest: Tod wegen Hochverrats.

Irgendwann in November 1941, während einer Vernehmung, als er wieder und wieder befragt wird, warum er gerade vom Rath erschossen habe, behauptet Grynszpan plötzlich, er habe vom Rath von homosexuellen Lokalen in Paris gekannt. Weiter behauptet er sogar, sexuelle Beziehungen zu ihm gehabt zu haben.

Die Deutschen sind über diese Äußerungen entsetzt. Goebbels behauptet, sie seien „natürlich eine unverschämte Lüge, immerhin ist sie geschickt erdacht“. Weil die Nazis jedoch fürchten, solche Argumente könnten während des Prozesses auftauchen, wird dieser immer wieder verschoben — und findet schließlich nie statt.

Die letzte Nachricht von Grynszpan stammt vom Januar 1945 aus der Magdeburger Haft. Hat er den Krieg überlebt?

Am 1.Juni 1960 wird Grynszpan für tot erklärt. Zeitpunkt des Todes: 8.Mai 1945. Trotzdem berichten mehrere Zeitungen, er lebe unter falscher Identität in Frankreich und wolle seine Ruhe haben. Auch Filmemacher van Dick wüßte gerne, ob Grynszpan, der jetzt 70 Jahre alt sein müßte, noch am Leben ist. Klar ist ihm jedoch, daß alles getan werden muß, um zu verhindern, daß wieder in Deutschland Ausländer um ihr Leben fürchten müssen. Igal Avidan

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