Querspalte:
Den Stier wenden
„Hast du heute schon den Stier gewendet?“, fragt Sabine, und ich erschrecke. „Oh nee, hab ich vergessen, mach ich aber sofort.“ Ich hole die Gießkanne, fülle den Stier auf und wende ihn. Unser Stier ist vermutlich das Dümmste, was wir uns jemals angeschafft haben. Vielleicht mal abgesehen vom Kochbuch mit der Brigitte-Diät. Jetzt haben wir ein Rindvieh in der Wohnung, und ich bin sein Pfleger. Als Sabine bei Lidl den Stier sah, konnte sie einfach nicht widerstehen. Zugegeben: 4,95 waren nicht viel Geld.
Das Tier ist etwa 16 Zentimeter lang, elf Zentimeter hoch und aus gebranntem Ton. Unser Stier ist ein Chia Pet und kommt aus dem Fernen Osten. Ein Chia Pet funktioniert so, dass in die Rillen, die in seinen Leib eingearbeitet sind, dicht an dicht kleine Samenkörner eingelegt werden. Nach ein paar Tagen sprießt es, und auf dem Ding wächst eine Art Wiese mit einer ausgesprochen hässlichen Gräserart. Täglich muss der hohle Stier mit Wasser aufgefüllt und gewendet werden, weil sonst das Gras einseitig dem Tageslicht entgegenstrebt. Das sieht blöd aus. Wie gesagt, unsere vermutlich dümmste Anschaffung. Nutzlos, langweilig, hässlich. Ich aber wende nach jedem Aufstehen als Erstes den Stier. Warum? – Wenn er vertrocknete, müsste ich die Wurzeln aus den Rillen kratzen und den Stier neu einsäen. Zur Ehrenrettung meiner Frau muss ich sagen, dass sie das Ganze nach wenigen Tagen auch blöd fand. Aber es ist mein Stier, also muss ich auch für ihn sorgen.
Manche werden nun sagen: „Mensch, Scheffler, hast du nichts anderes zu tun!“ Nein, hab ich nicht. Ich empfehle allen Rentnern und Arbeitslosen, die zu viel Freizeit haben, statt Hunde zu halten, alle Fensterbänke mit Chia Pets vollzustellen. Das hält einen auf Trab, und Dreck macht es auch nicht. Es kann nur vorkommen, dass man sich manchmal fühlt wie der letzte Trottel. Andreas Scheffler
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