: Den Gesetzgeber her, wenn Arbeitnehmer blaumachen
Feldzug gegen angebliche und wirkliche Drückeberger wird über 100 Jahre geführt/ Bei Lohnfortzahlung bieten Tarifverträge mehr als das Gesetz ■ Von Ruth Lindenberg
Bonn. Alle paar Jahre wieder entbrennt der Streit um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Arbeitgeber und Politiker, vornehmlich aus der FDP, entdecken scheinbar große Zahlen von Arbeitnehmern, die angeblich unter dem Vorwand von Krankheit blaumachen und rufen nach dem Gesetzgeber. Er soll die gesetzliche Lohnfortzahlung beschränken oder wieder Karenztage einführen, an denen der „krankfeiernde“ Arbeitnehmer zunächst mal nichts erhält, wird gefordert. Die Gewerkschaften halten in der leidenschaftlich geführten öffentlichen Debatte mit starken Worten dagegen.
Sachkundige Politiker in Bonn winken ab. Für Gesetzesänderungen gebe es keine Mehrheit im Parlament. Außerdem verweisen sie darauf, daß ein großer Teil der von Unternehmern kritisierten Vorschriften gar nicht per Gesetz, sondern in Tarifverträgen geregelt sind. Diese seien schließlich von den Arbeitgebern unterzeichnet worden und könnten damit von ihnen auch in neuen Verhandlungen mit den Gewerkschaften geändert werden.
Das Streitthema gibt es schon seit über 100 Jahren. Von 1861 datiert das erste Gesetz, das Handlungsgehilfen wirtschaftliche Sicherung beim krankheitsbedingten Ausfall ihrer Arbeitskraft sicherte. In mehreren Schritten wurde dies auf andere Berufsgruppen ausgedehnt, bis die Lohnfortzahlung durch die Arbeitgeber ab 1930 für alle Angestellten unabdingbar wurde. Arbeiter blieben vorerst auf das Krankengeld der Krankenkassen angewiesen.
Für die Einführung der sechswöchigen Lohnfortzahlung auch für die Arbeiter kämpften die Gewerkschaften seit Gründung der Bundesrepublik verstärkt. Ab 24. Oktober 1956 führte die IG Metall in Schleswig- Holstein den mit 16 Wochen längsten Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik um dieses Thema. Den vollen Erfolg erreichten die Gewerkschafter jedoch erst 1969, als die große Koalition mit dem jetzt immer wieder kritisierten Lohnfortzahlungsgesetz auch den Arbeitern die sechswöchige Entgeltfortzahlung sicherte und sie damit den Angestellten im wesentlichen gleichstellte. In der Zwischenzeit gab es Lösungen, bei denen die Arbeitgeber den Erkrankten Zuschüsse zum Krankengeld zahlen mußten, die das Entgelt zunächst auf 90, dann auf 100 Prozent des letzten Nettoverdienstes anhoben. Die nur bei den Arbeitern vorgesehenen Karenztage wurden zwischenzeitlich schrittweise von drei auf null abgeschmolzen.
Die sechswöchige Lohnfortzahlung ist aber nicht nur im Gesetz enthalten, sondern auch in Tarifverträgen für mehr als 50 Prozent aller Arbeitnehmer festgeschrieben. Darüber hinaus haben nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium 60 Prozent aller Arbeitnehmer Tarifverträge, die gegenüber dem Gesetzestext erhebliche Verbesserungen bedeuten. Dazu gehören Lohnfortzahlung über sechs Wochen hinaus oder Zuschüsse, die das nach sechs Wochen fällige Krankengeld der Kassen auf das volle Nettogehalt aufstocken. Nur in Tarifverträgen enthalten ist die Regelung, daß Arbeitnehmer erst bei Erkrankungen, die länger als drei Tage dauern, eine ärztliche Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit vorlegen müssen. Das Gesetz läßt den Arbeitern dagegen keine Frist. Es schreibt ihnen vor, sich unverzüglich ein Attest zu besorgen und bis zum dritten Tag beim Arbeitgeber vorzulegen. Für Angestellte gibt es nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium überhaupt keine gesetzliche Regelung zu diesem Punkt. Gerade die Kurzzeit- Kranken ohne ärztliches Attest spielen in der öffentlichen Diskussion um angebliche Drückeberger eine große Rolle. Die Deutsche Bundespost will jetzt von Mitarbeitern mit häufigen kurzen Erkrankungen eine ärztliche Bescheinigung schon ab dem ersten Tag der Erkrankung verlangen. Bei der Beiersdorf AG in Hamburg versucht man einen anderen Weg, um den mit 8,7 Prozent überdurchschnittlich hohen Krankenstand zu senken. Gemeinsam mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse wurde ein Pilotprojekt gestartet, das den Gesundheitszustand der Mitarbeiter über ein betriebliches Förderungsprogramm verbessern soll. dpa
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