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■ KommentarDemoskopie kreativ

Wer wohnt denn heutzutage noch auf mehr als zwei Quadratmetern? Wer fährt nicht täglich sechs Stunden mit dem Dreirad zum Müllsortieren, wer verdient schon mehr als vierzig Mark pro Tag und hat derweil nicht noch zwölf uneheliche Kinder zu ernähren? Eben.

Wenn die mündige Bürgerin sich schon mikrozensieren lassen muß, wird es ihr keiner verwehren wollen, dem Staat so anonym, als wären's Wahlen, bei seinen Wohlfahrtsprogrammen unter die Arme zu greifen und ihn gezielt zu sinnvollen Maßnahmen zu animieren.

Nicht zuletzt wird auch Wohnungsbau mit Angaben aus dem Mikrozensus gerechtfertigt, und Realpolitik kann schließlich nur machen, wer seine Hände jederzeit tief in Zahlen tauchen, politischen Gegnern im passenden Moment Statistiken um die Ohren hauen und unvernünftigen Vorstellungen rechtzeitig mit „wissenschaftlich überprüften“ Daten den Garaus machen kann. Paranoiker, wer Böses dabei denkt: Warum sollte es nicht von allgemeinem Interesse sein zu wissen, wer wie alt ist, wieviel verdient, wie wohnt? Gerade JournalistInnen verwenden am liebsten Statistiken, die sie nicht noch selbst fälschen müssen. Schließlich haben wir ohnehin alle keine Ahnung mehr, durch welche Apparate wir unsere Plastikkärtchen schieben.

Nur in Deutschland wird die Nichtteilnahme an der Demoskopie unter Strafe gestellt – warum also sollte mensch nicht die Freiheit, unter Zwang zu antworten, kreativ gestalten? Lebt Demokratie denn nicht vom phantasievollen Umgang mit der Realität, vom liebenswerten Understatement, von der selbstbewußten Bescheidenheit? Eben. Ulrike Winkelmann

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