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■ Höchstinstanzliche Polizeiprosa gegen Chaos-TageDemonstratives Urinieren

Der Autor konnte das Papier nicht mit vollen Namen unterzeichnen. Er war in Eile. Hannover in Gefahr! Der Innenminister vielleicht bald nicht mehr Herr der Landeshauptstadt! Dem Autor schwirrte der Kopf. „Verboten!“ so müßte es schon in den ersten Worten donnern, Versammlungen und Aufzüge in und um Hannover „verboten“. In jeder Form. Jawohl. Vielleicht noch eine kurze Erklärung für die Bürger. Er schrieb, gab alles. Dann konnte er nicht mehr. Nur noch: „Klosa. Polizeipräsident.“ Und ab zum Kopierer.

Nach Abzug der Verbotsklauseln (eine Seite) bleiben neun handgetippte Schreibmaschinenseiten, auf denen Hannovers Polizeipräsident seine Verfügung gegen die „Chaos-Tage“ begründet. Auf den Punkt genau analysiert er die Ziele der Punkbewegung: Hier kommt es darauf an, das Erscheinungsbild einer Großstadt durch größere und kleinere Ansammlungen zu prägen und die systemtreuen Bürger zu provozieren, ihnen ihre Machtlosigkeit durch aggressives Verhalten ... vor Augen zu führen, um dadurch eigene Stärke zu genießen.

Auch wenn sich das Subjekt verbirgt, werden hier Erfahrungen jahrzehntelanger Observation deutlich. Klosa kennt seine Pappenheimer und die Auswüchse der Jugendkultur. Auch die in der Punkszene typischen Verhaltensweisen weiß er zu beschreiben:

– Übermäßiger Alkoholgenuß in der Öffentlichkeit bis hin zu Alkoholexzessen

– Beschimpfen, Anpöbeln, Beleidigen, Anspucken (...)

– Gruppenweise lagern (...)

– Verschmutzen von Straßen (...)

– Demonstratives Urinieren in der Öffentlichkeit (...)

Außerdem, stellt Klosa fest, schreiben Punks. Ein Glück. Das kann man zitieren und moralisch verurteilen – auch wenn das Zitat aus dem letzten Jahr stammt. Jetzt zählt Wirkung. In den Flugblättern zu den Chaos-Tagen 1995 wird zur „größten Bullenverarsche aller Zeiten“ und zum „Angriff an allen Fronten-Chaos-Tage überall“ aufgerufen. Für die Chaos-Tage wird sogar ein detailliertes Programm vorgegeben, auf dem Programmpunkte wie „Vergewaltigung von Polizistinnen“ und „Rentner vors Auto werfen“ etc. aufgeführt sind.

Aber würden schlechtes Benehmen und Flugblätter aus Vorjahren ausreichen, das Verbot durchzusetzen? Vielleicht nicht. Doch Klosa ist nicht von gestern. Er kann einen einen Computer bedienen: „Im Internet werden ... Mitteilungen entdeckt, aus denen hervorgeht, daß die Chaos-Tage auch zum Sturz von Innenminister Glogowski führen sollen. Wörtlich heißt es: „Wir machen ihn fertig ... Der Volksaufstand ist nicht mehr aufzuhalten.“

Ist er aber doch. Dank Prosa von Klosa. Denn dem ist klar, was sonst noch folgen könnte. Den Tourneeplan der Sex Pistols vor Augen, sagt Klosa die Zukunft voraus:

„... In ganz Europa soll es zu Ausschreitungen kommen, um die beabsichtigten Krawalle nicht nur auf Hannover und das erste Augustwochenende zu begrenzen.“

Ja, so ist es. Erst urinieren sie auf die Straßen. Dann geht das Abendland unter. Aber nicht in diesem Jahr. Nicht mit Klosa. Das Versammlungs- und Veranstaltungsverbot im Rahmen der „Chaos-Tage“ gilt vom 26.7. bis 5.8.1996. Jörg Ihssen

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