■ Dem Osten Deutschlands steht ein heißer Frühling bevor: Tarif-Anarchie
Im Konflikt um die Revision des Stufenplans in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie gehen die Tarifparteien auf Crashkurs. Während die Verbände der Metallindustrie die laufenden Tarifverträge aufkündigen, um sich so der im April fällig werdenden Lohnerhöhung von 26Prozent zu entziehen, drohen die Gewerkschafter mit Arbeitsniederlegungen und Streiks. Selbstverständlich müssen die Lohnkosten in einem vernünftigen Verhältnis zur Produktivität stehen, sonst gehen die Betriebe unter. So gesehen war die schnelle Lohnangleichung von vornherein ein Fehler. Doch sie paßte schön in das Konzept, das der Kanzler mit seinen Visionen von den „blühenden Industrielandschaften“ vorgegaukelt und die Konjunkturapostel mit ihren Silberstreif-Kaffeesatzphilosophien brav sekundiert haben. Man mag die Ergebnisse dieser Tarifpolitik für falsch und verhängnisvoll halten. Aber können nun allen Ernstes die Arbeitnehmer dafür verantwortlich gemacht werden, daß die Investoren ausblieben, die Ost-Märkte zusammenbrachen oder die Produktivitätsraten der meisten Betriebe zurückblieben? Die IG Metall will die Beschäftigten zu Recht nicht zu den Sündenböcken der Vereinigungsprobleme abstempeln lassen. Doch sie muß sich fragen lassen, ob eine Tarifstreckung den Ost-Arbeitnehmern sozial nicht zugemutet werden kann. Was ist mit den Arbeitslosen und denjenigen, die durch die Lohnanpassung ihren Arbeitsplatz verlieren? Und was geschieht, wenn die Schlichtung für die Chemie mit einem Kompromiß endet?
Angesichts der fatalen ökonomischen Lage in Ostdeutschland ist nicht nur tarifvertragliche, sondern vor allem politische Phantasie gefragt – und die ist in Bonner Kreisen bekanntlich Mangelware. Dabei liegen die Vorschläge der Experten, die von Lohnfinanzierung statt Arbeitslosengeld über Investivlöhne bis hin zu arbeitszeitpolitischen Maßnahmen reichen, längst auf dem Tisch – nur ernsthaft diskutiert werden sie nicht. Die verhärtete Front zeigt aber auch, daß es den Tarifparteien nicht so sehr um eine sachgerechte Lösung, sondern in erster Linie um die eigene Gesichtswahrung geht: Kommt die Lohnanpassung, laufen den Metallverbänden die Mittelständler und Neu- Unternehmer im Osten weg; bleibt sie aus, steht der IG Metall eine Austrittswelle bevor. Gibt es aber bis zum April keine einvernehmlichen Lösung, wären die Konsequenzen fatal: Ohne verbindlichen Tarifvertrag droht im Osten ein Tarifchaos zu entstehen. Ganze Regionen könnten zu Grauzonen werden, in denen Unternehmer und Belegschaften die Tarifstandards durch betriebliche Vereinbarungen aushandeln – Tarif-Anarchie mit Wildwest-Methoden der Arbeitgeber und wilden Streiks der Beschäftigten. Erwin Single
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