Dem Literaturbetrieb fehlt die echte Debatte: Das wilde Leben darf draußen bleiben
Die Klage über den Literaturbetrieb ist das Eine. Selbstverständnisdebatten, die am Literaturbegriff arbeiten, das andere. Aber wo sind sie?
Leider kommt die Kritik des deutschen Literaturbetriebs gerade ziemlich altbacken daher. So hat Georg Diez neulich im Spiegel nicht nur idealtypisch vorgeführt, wie man eine ernsthafte Diskussion über den Schriftsteller Christian Kracht eben keineswegs hinkriegt; mit der Naziklatsche zu kommen schlägt jede differenzierte Debatte von vornherein tot. Ganz nebenbei aktualisierte er auch noch Klischeebilder vom Literaturbetrieb. Dieser Aspekt ist dann ziemlich untergegangen. Aber es lohnt sich, auf ihn zurückzukommen.
Von „Literatur-Claqueuren“ war da die Rede. Georg Diez unterstellte, dass die meisten Gegenwartsautoren ihre Bedeutung nur „ein paar von Kritikern erdachten und vergebenen Buchpreisen oder Stipendien verdanken“. Außerdem legte er nahe, dass die „wirklich wichtigen“ Schriftsteller – zu denen er trotz seines Unbehagens auch Kracht zählte – außerhalb des Betriebs stehen.
Die Muster, die Diez da bedient, sind so eingeführt, dass sie nur angetippt werden müssen, um den ganzen Kontext aufzurufen. Zu hören sind hier Echos der fundamentalen Kritik am Betrieb, wie sie erst in den Subkulturen und zuletzt in den Achtzigern im Umfeld der Zeitschrift Tempo gepflegt wurden. Maxim Biller ist dann noch mehrfach mit ihnen hervorgetreten.
Nachtleben, Einsamkeit, Berghain
In ihrer vollen Ausprägung wird in diesen Mustern dem vermeintlich verschnarchten Betrieb das wilde Leben und die echte Härte der Wirklichkeit „da draußen“ (Nachtleben, Einsamkeit, Berghain) entgegengehalten. Und übersehen wird dabei, dass gerade dieses vermeintliche Außen des Betriebs dem Betrieb selbst die besten Werbesprüche liefert. Darauf gibt es auch im Spiegel-Text von Georg Diez einen Hinweis. So ist sein auf den frühen Christian Kracht gemünztes Lob, dass „es Menschen gibt, die das Leben anders sehen, weil sie seine Romane gelesen haben“, im Kern deckungsgleich mit dem wohlfeilsten aller Sprüche des Betriebs: „Dieses Buch wird ihr Leben ändern.“ Der steht, so oder so formuliert, in jedem zweiten Klappentext.
Die Highbrow-Variante dieser Muster hat zuletzt der Literaturkritiker Helmut Böttiger vorgetragen (der das alles sicherlich in seiner Dankesrede in Leipzig, wo er auf der Buchmesse den diesjährigen Alfred-Kerr-Preis bekommt, noch einmal erläutern wird). In seiner Reaktion auf die Kracht-Debatte in der SZ manövrierte er nun nicht das wilde Leben, aber die Literatur selbst in die Außen-Position. Dabei watschte er Diez und Kracht gleichzeitig ab – immerhin eine schöne Volte – und denunzierte gleich noch weite Teile des Literaturbetriebs: alles „Durchblicker im Kulturmilieu“, und das war keineswegs positiv gemeint. Literatur möchte er vor der „Diskurs- und Kommunikationsmaschine“ dieser „ständigen Bescheidwisser“, die ihr „Ich nicht in Frage zu stellen brauchen“, bewahren.
Auch das sind Muster, die man nur antippen muss, um ihre Vollversion aufzurufen: Nach ihr kommt der Literatur selbst die Würde des Primären und der Debatte über sie nur der Status des Sekundärgeredes zu. Dann unterscheidet Helmut Böttiger noch zwischen richtigem und falschem Sprechen über Literatur – und spätestens da möchte man schon einmal gern wissen, woher Böttiger eigentlich diese Sicherheit nimmt, selbst auf der richtigen Seite zu stehen; denn sobald man nur redet und diskutiert und erklärt, wird man doch unweigerlich Teil der Kommunikationsmaschine.
Vor allem übersieht Böttiger, wie sehr seine Sehnsucht nach einem auratischen Sprechen über Literatur Teil und Antriebsmotor des Betriebs selber ist. Die Literaturfestivals boomen ja derzeit allerorten, weil – womöglich entgegen seiner Selbstwahrnehmung – nicht nur Böttiger allein die Nähe zur Literatur sucht. Mindestens das halbe deutsche Bürgertum sucht da fröhlich mit. Genau wie bei Georg Diez ist diese Form, den Betrieb zu kritisieren, längst mit dem Betrieb selbst verschwistert.
Wer soll das denn lesen!
Aber nicht diese heimlichen Verschwisterungen sind das Problem. Vielmehr kann einem, während man wie der Rest der Branche auch sozusagen innerlich die Koffer packt, um Mitte der Woche nach Leipzig aufzubrechen, auffallen, dass man mit diesen alten Mustern an die interessanten Punkte des Literaturbetriebs gar nicht herankommt.
Zunächst mal ist es schon ganz gut, einmal wahrzunehmen, was der Literaturbetrieb derzeit leistet. Das ist nicht wenig. So können derzeit so viele Autoren wie nie vom Schreiben halbwegs leben, was ja nun nicht nichts ist. Außerdem wurden zuletzt solch ja nun nicht gerade unsperrigen Weltautoren wie David Foster Wallace und Robert Bolano langfristig durchgesetzt, und dieses Frühjahr geht das bei Péter Nádas schon gut weiter. Und an interessanten deutschsprachigen Büchern gibt es keinen Mangel: letzten Herbst Leif Randt, Judith Schalansky, Sibylle Lewitscharoff, Eugen Ruge, Wolfgang Herrndorf; dieses Frühjahr Bernd Cailloux, Anna Katharina Hahn, Thomas von Steinaecker, Frank Schulz, Katrin Seddig usw.
Wer Lust hat, zu lesen, der findet interessante Bücher, und zwar auch jenseits von Charlotte Roche, bei der, warum auch immer, viele Betriebskritiker so gern einhaken. Bezeichnenderweise switchen Menschen, die zunächst zu dem Lamento neigen, die deutsche Literatur sei langweilig, bei Nachfragen denn auch recht schnell zu der Analyse um, das Angebot sei ja so unübersehbar, wer bitte schön solle das alles denn lesen.
Versäumnisse und übersehene Autoren gibt es immer. Aber in der schnellen Erstwahrnehmung neuer Bücher ist der Betrieb schon ganz rege. Die wirklich interessanten Probleme liegen auf einem anderen Feld: Es hakt daran, diese ständige Sichtung neuer Bücher und Autoren in mittel- und langfristige Selbstverständnisdebatten zu überführen, die am Literaturbegriff arbeiten. Und bei dieser Arbeit können einem die pauschalen Abwertungsmuster gar nicht mehr helfen; sie werden ja auch eher deshalb angewandt, um die jeweils eigene Sicht gegen jegliche Debatte zu immunisieren.
Auf zwei Gebieten hinkt die literaturkritische Debatte besonders stark hinter der tatsächlichen Arbeit der Schriftsteller hinterher. Das erste betrifft das Projekt, das viele deutsche Schriftsteller gerade umtreibt: das Projekt, Lebensläufe erzählbar zu machen und damit Erfahrungen weiterzugeben. Kann schon sein, dass da neben interessanten Büchern auch nur anliterarisierte Familiengeschichten herauskommen, aber das wird sich ja nicht dadurch ändern, dass weite Teile der Literaturkritik die Autoren hier geradezu alleinlassen, weil sie sich auf komplexe Gegenwartsbeschreibungen versteift haben oder Familiengeschichten per se unter Mainstreamverdacht stellen (als ob es bei der Literatur nicht immer – immer – auf die Umsetzung ankäme!).
Die Rolle der Literatur bei der prinzipiellen Aufgabe in der Moderne, aus der Vergangenheit zur Selbstverständigung eine eigene Geschichte zu bilden, wird jedenfalls gern unterschätzt; es sei denn, es geht um Dissidentenerfahrungen.
Das zweite Gebiet betrifft die Sprachkunstwerkseite der Literatur. Sie wird immer dann vordringlich herausgestellt, wenn es einen hohen literarischen Ton zu besingen gilt: zuletzt etwa bei Sibylle Lewitscharoffs Roman „Blumenberg“, Satzrhythmus, Löwe und so. Andere, genauso ambitionierte Sprachdramaturgien, die mit sprachlicher Abklärung arbeiten (Eugen Ruge) oder mit literarischen Mustern spielen (Wolfgang Herrndorf), werden dagegen nicht mit derselben Emphase wahrgenommen.
Im Hintergrund wirken hier noch bildungsbürgerliche Prägungen allzu unhinterfragt nach: im Kern die Prägungen, nach denen (nur) eine poetische Sprache das Leben transzendiert und utopische Kraft entwickelt. Dabei kann sich der daseinsteigernde Spaß am Lesen doch auch bei cooleren und realistischen Schreibweisen ergeben. Es gibt da diesen Satz des neuen Merkur-Herausgebers Christian Demand: „Der daseinssteigernde Ertrag des Ästhetischen lässt sich nun einmal nicht beweisen – darüber, auf welche Angebote es sich einzulassen lohnt, informiert allein der Selbstversuch.“ Wie zuletzt die Bücher des Kritikers James Wood und der Schriftstellerin Jennifer Egan zeigten, sind die Amerikaner in den Selbstversuchen, auf welche literarischen Formen sich einzulassen sich lohnt, freier.
Hinter den Kulissen
Der Punkt ist: Solche Debatten und die dahintersteckenden symbolischen Kämpfe werden zwar durchaus geführt, aber die Struktur des deutschen Literaturbetriebs ist inzwischen geradezu darauf ausgerichtet, sie hinter die Kulissen zu verlegen. So finden die interessantesten Streitgespräche, wie neulich im Gespräch einer bekannten Kritikerin auffiel, in den Jurysitzungen zu den wichtigen Literaturpreisen statt, hinter verschlossenen Türen. Denn hier muss man sich im Zweifel zwischen Sprachkunstwerk und Erfahrungsweitergabe entscheiden.
Und wie unvermittelt die literarischen Sphären nebeneinanderstehen, zeigt allein schon die Kluft, die zwischen dem Buchpreis und dem Büchnerpreis klafft. Grundsätzliche öffentliche Überlegungen über das aktuelle literarische Programm hinaus verlegt man dagegen gern, im Modus von „Bildung“, in den Anlass von Gedenktagen und gleich -jahren. Und man kann sich schon fragen: Warum eigentlich?
Die überkommene pauschale Abwertung des Literaturbetriebs hat da ihren Anteil. Statt seine Selbstaufgabe im Namen eines angeblich verdeckten Außens zu propagieren, sollte man lieber etwas anderes kritisieren: Das Debattieren hat der Betrieb tatsächlich zu sehr aufgegeben, zugunsten von Autorenvorstellungen und von Bildungshuberei.
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