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■ Deeskalation als Aufgabe des Polizeischutzes?Horror vacui

In Wirbelstürmen und Bürgerkriegen, Erdbeben oder im Super-GAU verlieren Unzählige ihre Behausungen. Wo Katastrophen unabwendbar heraufziehen, werden Menschen evakuiert. Seltsam, die Evakuierten dieser Tage in Deutschland. Sie werden verlegt, abgezogen und so fort. Die blasse Tarnsprache des Behördengesamtdeutsch signalisiert formelhafte Entdramatisierung. Das (Aus-)Leeren, die Herstellung eines Vakuums, die Räumung eines Hauses von seinen Bewohnern — all das hörte sich dagegen häßlich an. Schließlich geht es, so die amtlichen Beteuerungen, um die Sicherheit dieser Leute. Die ausgerechnet in Heimen und Wohnungen leben, welche mehr oder weniger hartnäckig von unseren deutschen Mitbürgern angegriffen werden.

Ob auf unsere Polizei doch nicht so recht Verlaß ist, wenn sie ausrücken muß, um Neger, Zigeuner oder andere „Artfremde“ zu schützen? Die Angegriffenen werden jedenfalls „verlegt“. Abwegig zu behaupten, dies sei immer und überall falsch. Doch nach Hoyerswerda, Rostock und, vorläufig letzter Schandort des Rückzugs, Quedlinburg, ist zu besorgen, daß einmalige Fehlleistungen sich zu einer fatalen Strategie verfestigen.

Bevor die nächste „Verlegung“ ins Haus steht, sei den Verantwortlichen der Polizei, vor allem aber den federführenden Politikern mit freundlicher Entschiedenheit ans Herz gelegt: Sie mögen sich in einer besinnlichen Minute einmal versuchsweise vorstellen, arbeitslose Stasi-Leute liefen brandschatzend Sturm gegen ein Gebäude der verhaßten westdeutschen „Kolonialmacht“, sagen wir gegen ein Grundbuchamt oder eine Behörde der Arbeitslosenverwaltung. Ob der Rechtsstaat auch dann dem Druck der Straße so zuvorkommend nachgäbe?

Ein rechtsstaatlich gezähmter Polizeiapparat, man möge das nicht mißverstehen, haut nicht blindlings drauflos, wenn irgendwo gesellschaftliche Unruhe entsteht. Er fuchtelt auch nicht berserkerhaft mit dem Gewaltmonopol um abstrakter Prinzipien willen. Nein, ein demokratisch verantworteter, mithin parlamentarisch kontrollierter Polizeiapparat verteidigt besonnen Leben, Freiheit, Eigentum und körperliche Unversehrtheit aller, wo und von wem auch immer diese „Rechtsgüter“ bedroht sein mögen. Und schlägt notfalls zu — so hart und wohldosiert, wie das die konkrete Gefahrenlage erfordert. „Verhältnismäßigkeit“ der eingesetzten Mittel nennt man diesen Grundsatz, der im Rechtsstaat übrigens jedwede Staatsgewalt bindet.

Die Evakuierung von Flüchtlingen kann einzig Ultima ratio einer Lage sein, die mit regulären Zwangsmitteln der Polizei oder des Bundesgrenzschutzes nicht mehr zu kontrollieren ist. Eine solche Lage ist erst dann gegeben, wenn die Dramatik der Ereignisse die Dimension eines schwelenden Bürgerkriegs erreicht und den Notstandseinsatz der Bundeswehr „beim Schutze von zivilen Objekten“ erfordert (vgl. Art. 87a Absatz 4 des Grundgesetzes).

Von bürgerkriegsähnlichen Zuständen kann offenkundig keine Rede sein. Auch dort nicht, wo desorientierte Banden ihr Mütchen an Schwachen schon die x-te Nacht in Folge kühlen und Otto Normalverbraucher bierdosenschwingend Beifall rülpst. Es ist daher fadenscheinig, wenn der Schutz von Flüchtlingen ortsbezogen aufgegeben und als „Deeskalation“ verkauft wird. Es stimmt nachdenklich und bitter, daß jene „Stalingrad-Mentalität“, die bei der Verteidigung des Rechtsstaats vor Bauzäunen und besetzten Häusern weiland an den Tag gelegt wurde, heute in ihr Gegenteil, sanftmütige Indifferenz, umzuschlagen droht.

Jene, die Polizeigewalt ausüben oder befehligen, entbindet nichts und niemand von ihrer Pflicht, rechtsstaatlich, das heißt politisch neutral, zu agieren — durch alle Zumutungen hindurch, die interessierte Tagespolitik in Gestalt von „Härte“ oder „Milde des Gesetzes“ an sie heranträgt.

Ganz gleich in welcher Provinz es brennt: Die westdeutschen Lehrmeister haben in diesen Tagen vielerlei traurigen Anlaß, den Rechtsstaatsanfängern einer demokratisch gewendeten „Volkspolizei“ zu beweisen, ob sie ihre Grundlektionen selbst schon begriffen haben. Horst Meier

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