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DebatteGesundheitsspießertum für sinnloses Leben

Wenn die grün-schwarze Landesregierung das Rauchen auch draußen weitgehend verbietet, werden Nichtraucher wie kalter Kaffee herumstehen. Unser Autor vermutet, dass es wichtigere Themen gibt – und dass wir zwar immer länger und gesünder leben, aber immer weniger wissen, warum.

Raucherrefugium Volksfest: In den Bierzelten auf dem Cannstatter Wasen ist Qualmen erlaubt. Foto: Julian Rettig

Von Jörg Scheller

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek liebt es, Witze zu erzählen. Vor allem eine Szene aus einem Film von Ernst Lubitsch hat es ihm angetan. In Ninotschka (1939) versucht ein Mann verzweifelt, eine Frau zum Lachen zu bringen. In höchster Not besinnt er sich auf seinen besten Witz: Ein Mann kommt in ein Restaurant und bestellt beim Kellner einen Kaffee ohne Sahne. Der Kellner geht ab und kommt fünf Minuten später mit leeren Händen zurück. Man habe leider keine Sahne, ob es auch ein Kaffee ohne Milch sein dürfe? Die Umsitzenden brüllen vor Lachen. Die Dame indes verzieht keine Miene. Vielleicht sah sie eher die philosophische als die humoristische Dimension – eine, die so einiges mit der bevorstehenden Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes im Lande Baden-Württemberg zu tun hat.

Für Žižek sind menschliche Handlungen nicht nur durch ihre Positivität bestimmt. Ob der Kaffee ohne Sahne oder ohne Milch ist, ändert zwar nichts an seiner materiellen Substanz. Ob ich aber keine Milch in den Kaffee möchte, weil mir Milch nicht schmeckt, weil ich allergisch gegen sie bin, weil ich keine tierischen Produkte verzehre oder weil weiße Flüssigkeiten aus irgendwelchen Gründen Ekel bei mir auslösen, macht einen Unterschied. (Mit)entscheidend ist, was man nicht tut, wenn man etwas und indem man etwas tut. In Anlehnung an G.W.F. Hegel spricht Žižek von „bestimmter Negation“.

Bei der Lektüre der nachfolgenden Ausführungen zum geplanten baden-württembergischen Nichtrauchergesetz sei im Sinne identitätspolitischer Selbstdeklarationsverpflichtung darauf hingewiesen, dass sie von einem Autor verfasst wurden, der nicht nur langjähriger praktizierender Anhänger der Straight-Edge-Bewegung ist, also, therapeutisch begleitet durch laute Gitarrenmusik, völlig drogenabstinent lebt, sondern der auch als Kraftsportler, Marathonläufer und habitueller Brokkolikonsument als feuchter Traum neoliberaler Selbstoptimierung gelten darf. Das Rauchverbot in geschlossenen öffentlichen und halböffentlichen Räumen ist ihm lieb und teuer. Und dennoch …

Beim Ausbau des Nichtraucherschutzes fällt auf, wie hoch wir Gesundheit respektive die Absenz von Krankheit, Schmerz, Altersbeschwerden heute gewichten (bestimmte Negation!). Was bei der Bestellung von Gesundheit alles nicht mitbestellt wird, gerät darüber leicht in Vergessenheit. Polemisch gesagt, wollen wir immer länger und immer gesünder leben, wissen aber immer weniger, warum eigentlich. Man opfert seine Gesundheit nicht für ein großes Projekt oder gar für eine Utopie, man pflegt sie um ihrer selbst willen. In Zeiten sinkender Geburtenraten und schwindender fester Bindungen an Parteien, Vereine, Organisationen lebt man noch nicht mal für andere, vielmehr kreist das eigene Leben um ebendieses. Aus dem schweizerischen Kanton Basel-Stadt wurde unlängst vermeldet, dass ein Viertel der Bevölkerung allein lebt und dass 47 Prozent der Wohnungen Einpersonenhaushalte sind. Soziale Isolation und Einsamkeit gedeihen da besonders gut. Aber es gibt auch eine hoffnungsvolle Nachricht: Mit ausreichend Superfood, Yoga, Sonnencreme, Braintraining und Abstinenz von Drogen wie Tabak lassen sich Isolation und Einsamkeit um mehrere Jahrzehnte verlängern!

„­Pure Vernunft darf niemals siegen“

Gesundheit ist zu einem biopolitischen Argument ohne Gegenargument geworden. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) will mit dem Nichtraucherschutzgesetz „ein klares Ausrufezeichen für den Gesundheitsschutz“ setzen, Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) sieht das „Recht auf saubere Luft“ gerade bei „besonders schutzbedürftige[n] Gruppen“ wie Kindern. In seiner Stellungnahme zum Nichtraucherschutzgesetz kommt auch das in den Novellierungsprozess einbezogene Bürgerforum zu dem Schluss, das bestehende Gesetz müsse ausgebaut werden, mithin Rauchen an Haltestellen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Sportstätten, Freibädern und Badeseen, Zoos sowie Eingangsbereichen untersagt werden. Von der damit verbundenen Ausweitung staatlicher Kontrollen, die in unserer verregelten und verrechtlichten Gegenwart nur durch noch mehr Videoüberwachung wird gewährleistet werden können, ist nicht die Rede – der Kaffee muss ohne Milch sein, das ist das Wichtigste.

Das Bürgerforum begrüßt zudem die Ausweitung des Gesetzes auf Produkte wie E-Zigaretten sowohl aus Gründen der Gesundheit als auch des Umweltschutzes, von der Gefahr der „Normalisierung und Akzeptanz des Rauchens und Dampfens in der Öffentlichkeit“ ganz zu schweigen – wer dem E-Vapen frönt, dem gelüstet womöglich bald nach härterem Stoff, vielleicht kehrt dereinst gar Opas ERNTE23 zurück! Und wer könnte denn auch etwas gegen den Schutz der Umwelt und der Gesundheit haben? Jeder Einwand stellt hier einen Angriff auf die physische – und implizit auch psychische – Integrität Dritter dar und gehört abgeschmettert. Allein, eine jede Idee ist nur so gut wie ihre Grenze. Wenn mit etwas einfach alles stimmt, stimmt etwas nicht. „Pure Vernunft darf niemals siegen“, singt die Popgruppe Tocotronic.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigt in Europa, unterbrochen von gelegentlich losgetretenen Weltkriegen, die Lebenserwartung. Und nicht nur die. Auch die „Healthspan“ („Gesundheitsspanne“), also die Zeit, die man weitestgehend ohne körperliche Einschränkungen verbringt, ist signifikant gestiegen, wenngleich etwas langsamer. Genau deshalb setzt nun ein Prozess ein, der in der Soziologie als „Tocqueville-Paradoxon“ bekannt ist. Vereinfacht gesagt: Wenn die großen Probleme gelöst sind, werden die Menschen nicht etwa gelassener und genießen zusammen die neuen Annehmlichkeiten (was im Übrigen auch positive gesundheitliche Folgen hätte). Vielmehr beginnen sie, verhältnismäßig kleine Probleme wie große zu behandeln und sich energisch an ihnen abzuarbeiten, ja an ihnen zu verzweifeln. So ist im neuen Jahrtausend der Konsum herkömmlicher Tabakwaren hierzulande signifikant zurückgegangen. Durch Deutschland rollt eine gewaltige Welle der Entpaffung. Die Leute koksen, sie mikrodosieren, sie kiffen, werfen Ecstasy ein, aber zur Zigarette, geschweige denn zur Pfeife greifen sie immer seltener. Gerade jetzt, wo man sich zurücklehnen und sagen könnte: „Schaut, das Problem erledigt sich langsam von selbst, wenden wir uns Wichtigerem zu!“, wird der Nichtraucherschutz wieder zum Politikum.

Einst war Rauchen ein Zeichen des Fortschritts

Unter freiem Himmel, wo Rauchen fürderhin kaum mehr gestattet sein soll, außer in einigen wenigen, streng abgezirkelten Raucherreservaten, ist das Gesundheitsrisiko durch Passivrauchen minimal, sei es durch herkömmliche Zigaretten, sei es durch E-Zigaretten, die deutlich strenger reguliert werden sollen als bisher. Gelegentliches passives Mitpaffen in Festzelten dürfte verschmerzbar sein und die Lebenszeit nur um wenige Sekunden verkürzen. Wer viel Zeit in solchen Räumlichkeiten verbringt, hat vermutlich ohnehin ganz andere gesundheitliche Probleme. Mehr noch, das Verdrängen des Rauchertums bringt das Nichtrauchertum um eine Quelle seines Stolzes – bis anhin konnte es sich im Vergleich mit seinen sich direkt ins biopolitische Fegefeuer qualmenden Mitmenschen rein und edel wähnen. Nun aber, da Politik und Gesellschaft mit vereinten Kräften ein posthistorisches Gesundheitsspießertum fördern, stehen sie im Stadtraum herum wie kalter schwarzer Kaffee ohne die Möglichkeit bestimmter Negation im Restaurant. Nichtraucher sind nicht länger Nichtraucher, sondern Typen, die wie alle anderen nicht rauchen. Niemand vermag zu bestimmen, ob der Typ da an der Bushaltestelle aus eigener Überzeugung nicht raucht oder weil es ihm die Regierung im Verbund mit dem Bürgerforum nicht gewährt. Vorbei die schönen, die stolzen Zeiten, da Nichtrauchen ein Residuum des Heroischen war.

Ein wenig drängt sich der Verdacht auf, dass, wie der Philosoph Robert Pfaller 2014 in einem Interview mit der Wochenzeitung argumentierte, linksprogressive Ideen wieder mal zur Verbrämung des jüngsten Stadiums des Kapitalismus dienen. Der Kapitalismus der heutigen „flüssigen Moderne“ (Zygmunt Bauman) ist elektronisch, digital, smart, diskret, woke. Er scheut alles, was ihn schmutzig und roh erscheinen lässt. Menschen sind ihm kostbare Ressourcen – buchstäblich Human Ressources –, die es zu erhalten und zu optimieren gilt. Da ist es nur folgerichtig, dass die Raucher, diese atavistischen Geschöpfe der Industriemoderne, die Öffentlichkeit verlassen und sich dahin zurückziehen, wo man sie nicht sieht und vor allem: nicht riecht. Im alten Kapitalismus der Dampfmaschinen war es naheliegend, dass die Bevölkerung geschlossen und in aller Öffentlichkeit paffte, gleichsam als mimetisch-performative Geste der Solidarität mit den Verhältnissen – Qualm, Rauch, Dampf, das waren Zeichen des Fortschritts, des Wachstums, einer besseren Zukunft! So entwanden sie sich denn Mündern wie auch Schloten.

Und was ist mit Hannah Arendt?

Wenn das Rauchen ins Private verschwindet, verschwindet eine Geste aus dem öffentlichen Raum, die eine mehr als nur gesundheitliche Dimension hat: „Das Rauchen, genauso wie das Trinken von Alkohol oder Kaffee, kann man kulturtheoretisch am besten unter dem Begriff der Unterbrechungsriten zusammenfassen. Diese erfüllen eine entscheidende psychohygienische Funktion: Man kann sich dabei für kurze Zeit als Mensch fühlen und sich versichern, dass man nicht nur ein Arbeitstier ist“, so Pfaller. Er vermutet zudem, dass der Einsatz gegen das – öffentliche – Rauchen ein symbolpolitisches Ablenkungsmanöver ist. Seit Jahrzehnten scheitern Politik und Gesellschaft an den großen Reformen des Gesundheitswesens, also bietet man zumindest ein ordnungspolitisches Trostpflästerchen an und sorgt dafür, dass es dem neoliberalen Highperformer vor dem Restaurant nicht ein Häuchlein Teer oder Feinstaub in die Longevity-Lunge weht. Winfried Kretschmann beruft sich in seinem Handeln als Politiker bekanntlich gerne auf Hannah Arendt. Für die politische Theoretikerin war das Zentrum des Politischen zwar wie für ihn „die Sorge um die Welt“. Das hinderte die überzeugte Raucherin jedoch nicht daran, letztere vollzuqualmen.

Im Sommer konnte ein Bürgerforum, bestehend aus 50 zufällig ausgesuchten Baden-Württemberger:innen, Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) seine Stellungnahme zu mehr Nichtrraucherschutz übergeben. Mittlerweile liegt der Gesetzentwurf vor, der vorsieht, dass auch E‑Zigaretten, Tabakerhitzer und Co. unter künftige Rauchverbotszonen fallen. In den Landtag kommt das Gesetz im Dezember, hofft man im Gesundheitsministerium. (lee)

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