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DebatteDer Klügere gibt nach

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Erdogan, Gewinner der türkischen Wahlen, muss auf seinen Präsidentschaftskandidaten verzichten - und seiner ideologischen Partei den Grund für ihren Wahlsieg beibringen

D ie Türkei hat eine neue politische Mitte, urteilten die Kommentatoren nach der Wahl. Doch wissen das auch die politischen Akteure? Erste Äußerungen des zweiten Mannes der AKP, Abdullah Gül, wonach die Wähler angeblich erwarten würden, dass er an seiner Kandidatur als Präsidentschaftskandidat festhält, lassen Zweifel daran aufkommen. Dabei ist ein paar Tage nach dem großen Wahlsieg der regierenden AKP und ihres Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan ziemlich deutlich, was der Grund dafür war. Die Opposition, inklusive der Generäle, stellte die Türkei vor der Wahl als ein gespaltenes Land dar: Islamisten auf der einen Seite, Verteidiger der laizistischen Republik auf der anderen Seite. Wichtigste Erkenntnis dieser Wahl ist nun, dass ein großer Teil der türkischen Bürger und Bürgerinnen dieses Szenario nicht geglaubt haben. Mehr als 70 Prozent der AKP Wähler geben an, die Partei aus wirtschaftlichen Gründen gewählt zu haben.

Bild: taz

Jürgen Gottschlich ist taz Korrespondent in Istanbul. Er war Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den 90er Jahren Chefredakteur.

Es gibt zwar eine über den harten, autoritativen kemalistischen Kern hinausgehende Angst vor einer schleichenden Islamisierung des Landes, doch die Großdemonstrationen im Mai, an denen mehrere Millionen Menschen teilnahmen, haben ein verzerrtes Bild vermittelt. Es gibt in der Türkei immer noch wesentlich mehr Menschen, die Angst um ihr tägliches Brot als Angst um ihren Lebensstil haben. Deren Mehrheit hat Erdogan für sich gewonnen. Was sich bei den Wahlen 2002 angedeutet hatte, hat sich jetzt verfestigt: Erdogan und die AKP sind die Hoffnungsträger der nach wie vor armen Massen; der Landbevölkerung wie auch derer, die sich millionenfach in die Städte aufgemacht haben, um dort um ihre Existenz zu kämpfen.

Zwar hat die Regierung Erdogan, angeleitet vom Internationalen Währungsfonds, eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt. Der Mindestlohn wurde nicht relevant angehoben, und der Ausverkauf öffentlicher Unternehmen wurde forciert, was gerade die Armen hart trifft. Trotzdem hat Erdogan die Stimmen der Unterprivilegierten nicht nur halten können, sondern vor allem die vielen selbsternannten Selfmademen des Landes auch für sich einnehmen können. Seine Politik hat offenbar vielen Selbstständigen - das sind in der Türkei erheblich mehr als solche in festen, sozialversicherten Jobs - die Hoffnung gegeben, dass es mit der AKP aufwärtsgehen wird. Nicht die Ideologie hat in diesen Wahlen den Ausschlag gegeben, sondern der alte Clinton Spruch "Its the economy, stupid".

Vor dem Hintergrund dieser Analyse wird die Niederlage der angeblich linken Opposition erst in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar. In den USA beispielsweise gewinnt die Rechte mit Ideologie (Homoehe, Schulgebet und Terrorangst) und die Linke mit wirtschaftlichen Fragen. In der Türkei hat die Rechte trotz IWF-Diktat und neoliberaler Politik mit wirtschaftlichen Argumenten gewonnen, während die Linke mit ihrer ideologischen Polarisierung verloren hat. Jenseits der schon fast lächerlichen Figur Deniz Baykal an der Spitze der Opposition und seiner Mitschuld an dem Desaster, kann man daraus nur einen Schluss ziehen: Wenn die kemalistische CHP jemals wieder eine Chance haben will, muss sie sich darauf besinnen, was eine sozialdemokratische Partei eigentlich ausmacht. Tut sie es nicht, wird es höchste Zeit für die Gründung einer neuen, unbelasteten Partei.

Das aber wird dauern, und so lange hat nun Erdogan mit seiner AKP ein freies politisches Feld vor sich. Das Problem Erdogans und seines zweiten Mannes, Abdullah Gül, wird sein, dass viele Kader der Partei wesentlich ideologischer sind als ihre Wähler. Diese befinden sich wirklich in der Mitte der Gesellschaft. Von ihnen stammen all jene Stimmen, die die Rechte zu ihren besten Zeiten unter Adnan Menderes, Turgut Özal und Süleyman Demirel in den 50er-, 60er- und 80er-Jahren bekommen konnte. Damit ist in die Türkei nach den Wirren der 90er-Jahre auch eine gewisse Normalität zurückgekehrt. Während die Rechte immer schon auf 45 bis 50 Prozent zählen konnte, kam die Linke kaum je über 30 Prozent der Wählerstimmen. Daran hat sich im Prinzip nichts geändert.

Die Wähler der Rechten sind zwar religiöser als die der Linken, haben aber in ihrer Mehrheit nichts mit einem politischen Islam zu tun. Sie wollen Wohlstand und keinen gesellschaftlichen Krieg um das Kopftuch. Die schwierigste Aufgabe Erdogans wird es nun sein, diese Erkenntnis seiner Partei beizubringen. Die AKP muss erst noch zu dem werden, was die Wähler bereits jetzt in ihr sehen: die Partei der hart arbeitenden Selbstständigen und der politischen Mitte.

Der erste Test für die Parteiführung steht bereits im August an. Dann muss noch einmal das Parlament einen Präsidenten wählen, wahrscheinlich zum letzten Mal, bevor Ende Oktober per Referendum über eine Verfassungsänderung entschieden wird, die vorsieht, den Staatspräsidenten künftig direkt zu bestimmen. Amtsinhaber Necdet Ahmet Sezer ist seit Mai nur noch kommissarisch tätig. VonAbdullah Gül und Tayyip Erdogan hängt es ab, wie die Wahl in vier Wochen abläuft. Nur wenn Gül sich durchringt, auf eine Kandidatur zu verzichten und die Führung der AKP der gedemütigten Opposition einen Kandidaten anbietet, den sie mitwählen kann, kann die Partei ihr Wahlversprechen von Stabilität und Prosperität aufrechterhalten. Bleibt Gül dagegen bei seiner jetzigen Interpretation, wird der ideologische Konflikt erneut ausbrechen und das Parlament vermutlich Mitte September wieder aufgelöst.

Wenn die Opposition nicht ganz und gar irrational agiert, wird sie diese Chance ergreifen und Erdogan die gerade errungene Mitte wieder streitig machen. Die AKP läuft Gefahr, gerade diejenigen ihrer Wähler zu verärgern, die sie nicht aus ideologischen, sondern aus pragmatischen, ökonomischen Gründen gewählt hat. Und das ist, anders als Gül nun glauben macht, die übergroße Mehrheit.

Dabei hat Erdogan gar keine Zeit, sich auf weitere Machtspiele mit dem Militär und der Opposition einzulassen. Die Frage nach dem Umgang mit der kurdischen Minderheit kann nicht länger ignoriert und schon gar nicht dem Militär überlassen werden. Ein Einmarsch im Nordirak wäre ein außenpolitischer GAU und würde zudem jeden Ansatz einer neuen Übereinkunft mit den meisten Kurden zerstören. Die AKP hat auch im kurdischen Südosten erstaunlich viele Stimmen geholt, und zwar nicht mehr nur wie die Rechte früher, als sie die Chefs großer Clans einkaufte und sich so die Stimmen der Clanangehörigen sicherte. Selbst in Diyarbakir, der Hochburg der kurdischen DTP, hat die AKP ebenfalls über 40 Prozent geholt. Das ist ein Dämpfer für kurdische Separatisten und eine Chance für eine neue Integrationspolitik. Wenn Erdogan die Klippe der Präsidentenwahl doch noch erfolgreich umschifft, hätte er jetzt für die kommenden fünf Jahre alle Möglichkeiten in der Hand. Zusammen mit den Kurden im Parlament könnte endlich damit begonnen werden, eine politische Lösung der Kurdenfrage zu finden.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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