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DebatteVom Börsengang zum Bettelstab

Kommentar von Tim Engartner

Das Beispiel Großbritannien sollte eine Warnung sein. Dort endete die Privatisierung der Bahn in einem Desaster. Ausbaden müssen das die Bahnkunden und der Steuerzahler.

D ie Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn ist umstrittener denn je. Mehrere Bundesländer drohen ihr Veto an, die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD fordern Änderungen an den vorliegenden Plänen. Dieser Streit legt nahe, den Blick nach Großbritannien zu richten, wo die Bahn bereits vor mehr als einem Jahrzehnt privatisiert wurde - mit verheerenden Folgen.

Bild: archiv

Tim Engartner, geb. 1976, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bonn, Oxford und Köln. Den Anstoß zu seiner Dissertation über die Privatisierung des deutschen und britischen Bahnwesens gaben zahlreiche Zugreisen in England.

Auflagenstarke Tageszeitungen wie Daily Mirror und Daily Mail veröffentlichen Artikelserien, in denen die obskursten Alltagserlebnisse ihrer Leserschaft mit dem "schlechtesten Bahnsystem Europas" dokumentiert werden. Die Beschwerden über annullierte Züge, defekte Waggontüren und überfüllte Zugabteile veranlassten die Strategic Rail Authority 2003 sogar, der Betreibergesellschaft Connex den Lizenzvertrag für die Verbindungen in den Grafschaften Kent und Sussex zu kündigen.

Ähnlich wie bei der Deutschen Bahn AG erweist sich das Buchungssystem mit bis zu 16 verschiedenen Tarifen als kaum durchschaubar. Nur wenige Schaffner sind in der Lage, Auskunft über verspätete Züge oder Anschlussverbindungen konkurrierender Betreibergesellschaften zu geben. Die Fehlentwicklungen sind nur teilweise der Unterfinanzierung des britischen Bahnwesens seit den 60er-Jahren geschuldet. Im Kern resultieren sie aus der von John Major initiierten Turboprivatisierung.

Geradezu Lehrbuchcharakter besitzt dabei der Transformationsprozess, den die Infrastrukturgesellschaft Railtrack binnen sechs Jahren durchlief: Nach dem Börsengang im Frühjahr 1996 musste die Aktiengesellschaft bereits fünf Jahre später Insolvenz anmelden, seit Oktober 2002 firmiert das de facto wiederverstaatlichte Unternehmen unter Network Rail.

Ein weiteres Problem im Mutterland der Eisenbahnen ist die Fragmentierung des Bahnsystems. British Rail wurde zwischen 1994 und 1997 mit der Trennung von Infrastruktur und Verkehrsbetrieb nicht nur vertikal, sondern mit der Aufgliederung in 106 Unternehmen, die binnen sieben Jahren in private Hände überführt wurden, auch horizontal zerschlagen.

Dabei ist die vertikale Integration eines Eisenbahnsystems existenziell: Wenn jemand, der einen Zug betreibt, nicht auch über den Unterhalt seines Streckennetzes, die Signalanlagen, den Fahrplan, die Länge der Bahnsteige, die Zuggrößen und damit einen Großteil seiner fixen Kosten bestimmen kann, dann orientiert er sich allein am kurzfristigen Profit.

Darüber hinaus erwies sich die Vergabe von 25 Betriebslizenzen als fatal. Denn im Widerspruch zu der erklärten Absicht, Wettbewerb auszulösen, wurden vielerorts Gebietsmonopole geschaffen. Angesichts der hohen Einmalinvestitionen wird sich der Konzentrationsprozess künftig weiter zum Nachteil kapitalschwächerer Betreibergesellschaften fortsetzen. Konkurrenz erwächst einem Betreiber gegenwärtig nur dann, wenn sich die Lizenzen geografisch überschneiden. Eine derartige Wettbewerbsstruktur stellt indes eine Ausnahme dar. Wählt man irgendeine Stadt zwischen Brighton und Inverness, so wird man feststellen, dass es generell nur eine Verbindung dorthin gibt - es sei denn, Geld und Zeit spielen keine Rolle.

Der Irrglaube an die segensreichen Effekte des Wettbewerbs hatte gravierende Folgen - wie das Bahnunglück von Hatfield, bei dem am 17. Oktober 2000 auf der stark frequentierten Küstenstrecke von London nach Leeds vier Menschen getötet und 70 teils schwer verletzt wurden. Doch während es sich bei den vorangegangenen Unfällen in Southall und Paddington noch als nahezu unmöglich erwiesen hatte, die Unzulänglichkeiten unter Benennung der Verantwortlichen aufzuarbeiten, lag die Unfallursache diesmal nach einhelliger Auffassung der Experten in einem einzigen Umstand begründet: der in mehrfacher Hinsicht mangelhaften interinstitutionellen Koordination, die sich aus der Fragmentierung des Bahnsystems ergibt.

Obwohl der für den Unfall ursächliche Riss am Schienenkopf seit zwei Jahren bekannt gewesen war, blieb die erforderliche Instandsetzung infolge von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Railtrack, dem mit der Wartung beauftragten Subunternehmen Balfour Beatty und der für Erneuerungsmaßnahmen zuständigen Baugesellschaft Jarvis Fastline aus.

Im Zuge der gerichtlichen Aufarbeitung musste die Railtrack-Führung einräumen, den Netzzustand weder systematisch erfasst noch die Gefahrenpotenziale ausgewertet zu haben. Wie marode das Trassennetz damals war, lässt sich daran ablesen, dass Railtrack gezwungen war, 1.286 Streckenabschnitte zu Langsamfahrstellen zu erklären und zahlreiche Trassen zu schließen, sodass der Bahnverkehr in einigen Landesteilen zum Erliegen kam.

Noch Anfang Dezember, also rund zwei Monate nach dem Unglück, waren trotz ständig wechselnder Fahrpläne 55 Prozent der 18.000 täglich verkehrenden Reisezüge verspätet. Das Fahrgastaufkommen sank um ein Viertel, sodass staatliche Zuschüsse erforderlich waren, um Insolvenzen der Transportgesellschaften abzuwenden. Zwischenzeitlich setzte die Fluggesellschaft British Airways auf der Kurzstrecke London-Manchester sogar Maschinen des Typs Boeing 747 ein, um der aus dem Bahnverkehr abgezogenen Nachfrage Rechnung zu tragen. Die Londoner Handelskammer schätzt, dass im letzten Quartal des Jahres 2000 als Folge des Bahnunglücks allein in der Hauptstadt 30 Millionen Arbeitsstunden und 600 Millionen Pfund Sterling an Produktivitätsverlusten verloren gingen.

Nach wie vor bilden die Betreibergesellschaften gemeinsam mit den drei Zugleasingfirmen, dem Infrastrukturbetreiber Network Rail sowie den mehr als 2000 (!) Subunternehmen ein selbst für die Beteiligten kaum mehr zu durchschauendes Interaktions- und Aufgabengeflecht. Waren die Verantwortlichkeiten zu Zeiten von British Rail noch eindeutig zuzuordnen, gab es infolge der Fragmentierung einen zusätzlichen Bedarf an kostspieligen bürokratischen Abläufen und nicht ein Weniger an Verwaltungsaufwand, wie die Fürsprecher der Bahnprivatisierung unentwegt behaupteten.

Mehrere Kostenrechnungen kommen zu dem Schluss, dass eine Umstrukturierung und Sanierung der Bahn durch die öffentliche Hand bedeutend preiswerter gewesen wäre. Schließlich wird der britische Haushalt nun mit mindestens 70 Milliarden Pfund Sterling belastet werden müssen, um den Schienensektor bis 2012 auf ein nach westeuropäischen Standards akzeptables Niveau zu hieven.

Festzuhalten bleibt, dass die Privatisierung des britischen Bahnwesens trotz vollzogener Korrekturen seit einigen Jahren auf breite Ablehnung stößt. Mittlerweile wird auf der Insel sogar ein längst tot geglaubter Begriff wieder öffentlich ausgesprochen: Verstaatlichung. Mehr als zwei Drittel der Briten wünschen, die Privatisierung der Eisenbahn möge rückgängig gemacht werden. Dies sollte auch der Bundesregierung eine Lehre sein.

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