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Debatte um EM in der UkraineBerlin statt Kiew?

Ein Boykott der EM scheint einigen Politiker nicht genug. Nun wird bereits über eine mögliche Verlegung des Turniers debattiert. Indes soll sich Timoschenkos Zustand verschlechtert haben.

Das Graffiti in Kiew wird so oder so bleiben. Bild: reuters

BERLIN/PRAG taz/rtr/dapd/dpa | Der hungestreikenden ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko geht es nach den Worten ihrer Tochter schlechter. „Sie hat starke Schmerzen und kann fast nur noch liegen. Sie kann sich nur noch wenig bewegen, weil sie vom Hungerstreik geschwächt ist“, sagte Jewgenia Timoschenko am Montag in Prag. Die Zeit werde knapp, sagte die Tochter, die ihre Mutter nach eigenen Angaben vor zwei Tagen besucht hatte. „Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter noch hungerstreiken kann, ob fünf oder zehn Tage.“ Die Familie hoffe, dass die Regierung ihre Haltung verändere.

Angela Merkel hält es sich noch offen, ob sie zur Fußball-EM in die Ukraine fährt oder nicht. Jede Reiseplanung der Kanzlerin stehe unter dem Vorbehalt des Schicksals der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko sowie unter „Vorbehalt der Rechtsstaatlichkeit“ in der Ukraine, ließ sie durch den Vize-Regierungssprecher ausrichten.

Zuvor hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel alle deutschen Politiker aufgefordert, den EM-Spielen in der Ukraine demonstrativ fernzubleiben. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) nannte es „unerträglich“, sollten Politiker zum Fußballgucken in die Ukraine reisen. Als erstes Regierungsmitglied schloss sich Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) diesem Appell an, Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) zog nach. „Es ist gut, der Ukraine aufzuzeigen, was schlimmstenfalls passieren kann“, sagte Niebel der Rheinischen Post. Sein Parteifreund Wolfgang Kubicki, gerade als Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein im Wahlkampf, rief gar alle Fußballfans auf: „Schickt eure Karten zurück oder fahrt erst gar nicht zur EM in die Ukraine.“

Manche Politiker denken noch einen Schritt weiter. So verlangte FDP-Generalsekretär Patrick Döring am Dienstag, zu prüfen, ob nicht alle EM-Spiele in Polen stattfinden könnten, dem anderen Gastland der Fußball-EM. Mehrere Bundestagsabgeordnete aus der zweiten Reihe brachten gar Deutschland als alternativen Austragungsort ins Gespräch – darunter die menschenrechtspolitische Sprecherin der Unionsbundestagsfraktion, Erika Steinbach (CDU), die SPD-Politikerin Gabriele Fograscher sowie der Vorsitzende des Bundestagswirtschaftsausschusses, Ernst Hinsken (CSU). Und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ließ flugs verlauten, eine kurzfristige Verlegung der Spiele nach Deutschland sei prinzipiell sogar organisatorisch machbar.

Führende Sportfunktionäre zeigten sich über diese Vorschläge verärgert. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Thomas Bach, erklärte, eine Verlegung von Spielen nach Deutschland sei „keine Option“, allein die Forderung zeuge „von großer internationaler Respekt- und Instinktlosigkeit“. Wolfgang Niersbach, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), sagte dazu: „Die Menschen in der Ukraine haben diese EM verdient.“ In den meisten anderen EU-Ländern ist ein EM-Boykott durch Politiker ohnehin kein Thema – weder in England, Frankreich, Portugal noch in Schweden.

Auch unter Menschenrechtlern stößt die Idee auf wenig Gegenliebe – weder Amnesty International noch Human Rights Watch (HRW) halten einen solchen Schritt für sinnvoll. Auch der einseitige Fokus auf die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko stößt manchen auf. „Es gibt auch andere sehr ernste Menschenrechtsverletzungen im Land“, gibt der HRW-Beauftragte Hugh Williamson zu bedenken.

Grünen-Chefin Renate Künast brachte deshalb eine andere Idee ins Spiel. Sie schlägt vor, deutsche Funktionäre und Sportler sollten bei der EM in der Ukraine „deutlich sichtbar“ einen orange Schal tragen – als Zeichen der Solidarität mit der Opposition.

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16 Kommentare

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  • T
    toddi

    Die Fußball-EM zum Teil in der Ukraine stattfinden zu lassen beruht sowieso auf einem politischen "Unfall" - eigentlich sollte sie als politisches Instrument dienen, die Ukraine (und derer Bevölkerung die mehrheitlich gegen eine Natobeteiligung war und ist) dem Westen und insbesondere der NATO nahezubringen.

    Außerdem sollte die (russisch feindliche) Orange Revolution (die ein Umsturz war und nie die Mehrheit des ukrainischen Volkes repräsentierte) nach Kräften unterstützt werden. Passend dazu die Ideen der Grünen, zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine zugunsten einer Unpopulären politischen Kraft. Da diese Westvasallen kaum noch politisches Gewicht haben - mehren sich jetzt natürlich die "kritischen" Stimmen.

    Frau Timoschenko, als westliche Verbündete ist somit ein Politikum, gibt da nur einen ersehnten Anlass -und schließlich ist man in Deutschland einem zusätzlichen (unverdienten) Euro, und von Problemen ablenkenden Gladiatorenkämpfen nie abgeneigt - (Aussen)politik hin oder her ...

  • G
    gustav

    Wenn Frau Timotschenko wirklich korrupt war und

    Korruption in der Ukraine mit Haft bestraft

    wird, dann gelten für sie die gleichen Gesetze,

    wie für alle anderen Ukrainer auch!!!!!!!!!

     

    Die Frage ist, ob die Beweise in Ordnung sind

    und ob sie nicht mißhandelt wird!

    Wenn Sie wirklich mißhandelt wird, sollte

    Sie gerettet werden, aber sonst ihre

    rechtmäßige Strafe absitzen.

     

    Man sollte nicht im Gestus des Bessermenschentums,

    der Drohung und Herabwürdigung anderer

    politischer Systeme Stimmungsmache betreiben

    und wirtschaftlichen Schaden anrichten.

    Das fällt früher oder später auf uns wieder zurück!

    Wenn die Polen und Ukrainer eine wirtschaftlich

    schlechte EM erleben, sind wir Deutschen dann

    Schuld!!! Und wir haben keine Lust immer für alle

    als Sündenböcke herzuhalten!

    Also bringt uns nicht immer wieder in solche

    beschissenen Situtationen durch Euer diplomatisches

    Analphabetentum.

     

    Beharrlichkeit, überzeugende Argumentation -ja,

    aber nur auf respektvolle Weise.

    Denn liegt, die Diplomatie einmal in Scherben,

    ist es schwierig ohne Gesichtsverlust wieder

    aufeinander zuzugehen!

  • BG
    Bernd Goldammer

    Endlich eine Fußball WM ohne deutsche Politiker!Lasst uns das genießen! Das potenziert mein Interesse erheblich. Und jetzt die Prophezeiung. Wenn Deutschland ins Finale kommt, werden sie alle in die Fernsehkameras lächeln, als hätten sie nie was gesagt! Wir wählen Leute, die sich offensichtlich vor nichts ekeln. Am allerwenigsten vor ihrem Polit-Geschwätz von gestern.

  • M
    meyerbeer

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    Dann doch bitte auch die Winterspiele 1914 in Sotschi

    nach Garmisch verlegen! Oder sind die Rechtsverhältnisse in Russland besser als in der Ukraine ?

  • K
    kroete

    Dass auch die Ukraine zur Zeit der Vergabe der EM alles andere als demokratisch zu bezeichnen war, wußten damals unsere heuchlerischen Politiker.

    Ebenso sollten wir gelernt haben, daß eine "Blatter-Mafia-Fifa" die Menschenrechte nicht interessiert.

    Eine "U-5%-FDP" ebenso neoliberal nur an Kohlescheffeln denkt und auf Stimmenfang im Wahlkampf jeden Stiefel leckt, wollte ein Herr Niebel das Entwicklungshilfeministerim auflösen, braucht man allerdings "personelle Räume", um die befreundete Entourage auf Staatskosten unterzubringen.

    Ja, Frau Timoschenko braucht Hilfe wie Tausende Häftlinge in der Ukraine auch.

    Leider machen gewinnbringende Sportverantstaltungen einen Staat nicht besser, jedoch bringen sie Aufmerksamkeit, zumindest für einen kurzen Augenblick, während ehrliche Politik Jahre braucht, um Verhältnisse zu ändern.

    Dort nicht artig zu claquieren, ist ein kleines Zeichen der Solidarität mit den Andersdenkenden und Inhaftierten.

  • W
    Weinberg

    Wer sich Politik und Wirtschaft in der Ukraine näher anschaut, der wird feststellen, dass dort manche Leute nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion binnen kürzester Frist zu Macht und Einfluss (und natürlich zu ansehnlichen „Sparguthaben“) gekommen sind.

     

    Nach diesem Selbststudium wird man unschwer zu der Feststellung gelangen, dass es sich weder bei Julija Tymoschenko noch bei Wiktor Janukowitsch um Unschuldslämmer handelt.

     

    Gegen die Ukraine riskieren Merkel u. Co. eine große Lippe – bei China aber kuschen sie. Dies sollte zum Nachdenken anregen!

  • W
    Westberliner

    ... alles nur Heuchelei.

  • A
    aurorua

    Da sitzt eine europafreundliche Frau wegen Korruption und Amtsmissbrauch in einem "dritte Welt Land" im Knast und Europa, vorneweg Deutschland, bläst sich auf als Menschenrechtsverteidiger. Da zeigt sich wieder einmal die bigotte, heuchlerische Seite unserer Politpappnasen und der neoliberal, spiessig, bürgerlichen Medienlandschaft. Das sich auch noch Mediziner vor diesen Karren spannen lassen ist ja geradezu pervers. Bei einem unbekannten und mittellosen Häftling würde ein Bandscheibenvorfall und zwei blaue Flecken überhaupt nichts bewirken.

    Ginge es um Russland oder China würde ebenfalls kein Hahn danach krähen.

  • HH
    Heiko Höfle

    Der Ukraine muss Druck gemacht werden - d.h., es hätte schon vor lange Zeit Druck ausgeübt werden sollen!

     

    Aber ausgerechnet jetzt bei der EM? Das machen unsere Politiker jetzt doch leider nur, weil Wahlen in Schleswig-Holstein und in NRW anstehen!

     

    Zudem: Druck kann man auf viele Arten ausüben. Warum ausgerechnet beim Fußball? Ehrlich gesagt sollte sich die Politik aus dem Sport raushalten. Ich will unsere politischen Nasen überhaupt nicht bei einer EM sehen! Ich will Fußball sehen, ohne dass mich Merkel oder Rösler von ihren teuren Ehrenplätzen angrinsen!

     

    Kurz gesagt: Fußball den Fans, politischer Druck über Sanktionen!

  • B
    breuer

    Wenn Frau Künast die deutschen Spieler auffordert, ein Zeichen zu setzen,so hoffe ich, dass jeder deutsche Spieler mündig genug ist, dieses selbst zu entscheiden. Wie sollte dieses Zeichen denn in der Praxis aussehen? Indem man vor Abspielen der Nationalhymnen Forderungen an die ukrainische Regierung durch die Spielführer verlesen lässt? Das ist dann genauso lächerlich wie das Verlesen der Forderungen gegen Rassismus vor Spielbeginn durch Philipp Lahm, das die anderen Spieler kaugummikauend zur Kenntnis nehmen.

    Die deutschen Spieler sollen gewinnen und möglichst Europameister werden, das ist ihr Auftrag.

    Der Politiker muss entscheiden, ob er die deutsche Nationalmannschaft entsendet oder nicht.

    Auf der anderen Seite: Viele Deutsche urlauben in Ländern, in denen Menschenrechte nichts gelten. Warum also diese Aufregung?

  • G
    GWalter

    Noch gestern hörte ich den ARD Moskau - Korrespntenden sagen, dass Timoschenko keinesfalls in der Ukraine beliebt sei.

     

    Höchstens 20 % der Bevölkerung möchte noch etwas von ihr und ihrer sog. ORANGENEN REVOLUTION wissen.

     

    Dem Volk hat sie keinesfalls genutzt, sondern hat 11 Milliarden $ auf die Seite gebracht und simuliert nun die Kranke.

     

    Dies ist alles Berechnung um sich wieder beim Publikum interessant zu machen...und DER WESTEN stellt sich hier als williger Helfer zur Verfügung !!???

  • K
    KlausK

    Die EM verlegen? Gerne.

    Aber bitte nicht wegen Timoschenkos Gesundheitszustand, sondern nur wegen der Sicherheitslage nach den Bombenanschlägen. Auch Janukowitsch sollte eine Möglichkeit zum Einlenken angeboten werden.

     

    Das Verhalten deutscher Politiker in der Timoschenko-Diskussion ist erbärmlich populistisch, ja äußerst peinlich.

    Am Ende lacht Frau Timoschenko sich ins Fäustchen, hat sie sich doch seit der Jelzinzeit auch nicht gerade zurückhaltend gezeigt, was die Anhäufung von Vermögen anbelangt. Und: Solange sie gefangen gehalten wird, ist ihr eine enorme Medienpräsenz außerhalb der Ukraine sicher.

  • D
    dop

    jaja, die heuchler unserer kapitalhörigen einheitsparteien. wo kommen wir den hin wenn eine korrupte ukrainische krähe der anderen korrupten ukrainischen krähe ein auge auszuhacken versucht.

  • SK
    Stefan K.

    Frau Timoschenko hatte in ihrer Regierungszeit ausreichend Gelegenheit, die Haftbedingungen in den ukrainischen Gefängnissen zu verändern und die Korruption zu bekämpfen.

     

    Jetzt ist sie eben Opfer der eigenen Politik und versucht diese Rolle für ihre politischen und persönlichen Zwecke zu nutzen.

  • BG
    Bernd Goldammer

    Auch mit Rückenschmerzen kann Frau Timoschenko das Bombenattentat auf die Mitbürger ihrer Heimatstadt verurteilen. Für mich wäre das ein wichtiger vertrauensbildender Grundansatz.

  • G
    Goal

    Jetzt sind aber langsam mal intelligente Politiker gefordert, ach hab ich ganz vergessen die haben wir ja nicht.