Debatte um Beschneidung: „Es ist ein genitales Trauma“
Angstattacken und gestörte Orgasmen können aus einer Beschneidung resultieren, sagt Psychotherapeut Matthias Franz. Er fordert eine breite, sensible und politische Diskussion.
taz: Herr Franz, Sie sagen, dass die Beschneidung von Jungen immer ein Trauma ist. Woraus schließen Sie das?
Matthias Franz: Die Beschneidung ist ein medizinisch grundloser, irreversibler Eingriff, die schmerzhafte Entfernung eines Körperteils. Die kollektive Empathieverweigerung, die hinter dieser Frage steckt, übersieht völlig, dass ein biologisch funktionales, wichtiges Stück Gewebe entfernt wird. Jede verletzende Intervention im Bereich des kindlichen Genitals ist ein Trauma.
Ist dabei relevant, wann die Beschneidung stattfindet?
Bei einem Neugeborenen rast das Herz, es schreit kläglich, zeigt eine schmerzverzerrte Mimik, Stresshormone werden ausgeschüttet. Es sind auch anhaltende Stressfolgen nachweisbar. Wenn man den Säugling ein halbes Jahr später impft, dann reagiert er mit einer sehr viel heftigeren Schmerzreaktion. Außerdem fällt die Beschneidung des Neugeborenen in eine hochsensible Phase, in der sich die Mutter-Kind-Bindung entwickelt. Dieser komplexe Vorgang kann empfindlich gestört werden.
Nun heißt es ja, dass eine fachgerecht durchgeführte Beschneidung nicht zu so großen Schmerzen führt.
Das ist ein Irrtum. Auch im Falle einer Betäubung bleibt der postoperative Wundschmerz. Der Säugling muss tage-, und wenn es Komplikationen gibt, sogar wochenlang starke Schmerzen erleiden.
57, ist Professor und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2010 erschien "Männliche Genitalbeschneidung und Kindesopfer" in Borkenhagen: „Intimmodifikationen". Franz ist zudem Erstunterzeichner eines offenen Briefs für den Kinderschutz.
Ist das bei Älteren anders?
Wenn Jungen mit fünf oder sechs Jahren beschnitten werden, befinden sie sich in der Konsolidierungsphase ihrer sexuellen Identität. Das Genital ist narzisstisch und libidinös hoch besetzt. Genau in diese Phase fällt die rituelle Kastrationsandrohung der Beschneidung. Kulturgeschichtlich unterstellt dieses Ritual Sexualität dem Primat des Patriarchats. Die Drohung heißt im Erleben vieler Jungen: Wenn du nicht tust, was Gott und deinem Vater gefällt, könntest du wieder beschnitten werden. Der Junge kann seine Eltern dafür nicht offen kritisieren. Er wird sich wahrscheinlich loyal an der Sexualmoral der Bezugsgruppe orientieren und diese später vielleicht mit durch Strenge verdeckter Angst von anderen einfordern.
Rigides Festhalten an traditionellen Ehrbegriffen ist eine Folge der Beschneidung?
So einfach ist das sicher nicht. Aber konkret erlittener patriarchaler Zwang kann schon einen enormen Sozialisationsdruck ausüben.
Die Beschneidung hält also das Patriarchat aufrecht?
So weit würde ich nicht gehen. Aber eine starke Kontrolle weiblicher Sexualität könnte ihre Energie auch aus dieser Angsterfahrung beziehen: Die Frauen, die ich – wie früher meine Mutter – liebe, könnten mich auch wieder enttäuschen und zulassen, dass mir etwas Böses angetan wird, wenn ich sie begehre. Ihre Reize sind deshalb gefährlich und müssen kontrolliert werden.
Würden Sie sagen, alle beschnittenen Männer sind grundsätzlich traumatisiert?
Sie haben alle ein genitales Trauma erlitten. Es ist sicher nicht so, dass das bei allen auch zu einer seelischen Beeinträchtigung führt. Es kommt darauf an, ob man dieses Trauma in einer empathischen Umgebung verarbeiten konnte oder ob man mit Schmerz und Ängsten allein blieb. Bei der weiblichen Beschneidung gibt es dagegen eine hohe Sensibilität. Da ist zu Recht jede Verstümmelung, aber auch jede noch so kleine rituelle Verletzung verboten.
Die jüdische Gemeinde will die Beschneidung keinesfalls infrage stellen. Verstehen Sie das?
Ja, das finde ich verständlich. In Genesis 17, worauf sich religiöse Juden beziehen, steht kodiert: Du darfst Kinder – also Sex – haben, aber nur zu meinen Bedingungen, und damit du dir das gut merkst, musst du mir deine Vorhaut geben. Gott wird hier als „El Shaddai“ bezeichnet, eine interessante Ausnahme. Normalerweise heißt er „Elohim“ oder „Jahwe“. „El Shaddai“, so vermutet man, war ein ugaritisch-syrischer Berggott mit phallisch-kastrierendem Zerstörungspotenzial, also eine uralte Deifizierung eines patriarchalen Machtanspruchs. Dieser Gott droht Abraham: Wenn du dich nicht an meine Regeln hältst, rotte ich dich aus. So kann man verstehen, warum gläubige Juden, gerade auch angesichts der Schoah, bis heute massive Angst haben, nicht beschnitten zu sein.
Wie kann sich das Beschneidungstrauma physisch äußern?
Gewebe etwa an der Eichel kann absterben, wenn die Heilung schlecht verläuft, narbige Verwachsungen können eine Erektion und den Geschlechtsverkehr schmerzhaft machen. Es gibt eine neue dänische Studie, die belegt, dass beschnittene Männer dreimal häufiger über Sensibilitätsstörungen mit einem gestörten Orgasmuserleben berichten als unbeschnittene.
Nun sollen solche Komplikationen nicht oft vorkommen.
Tja, was heißt nicht so oft? Opfer müssen erbracht werden? Der Betroffene verzweifelt jedenfalls. Die Komplikationsraten schwanken zwischen 0 und 16 Prozent. In der Einverständniserklärung, die Eltern vorher unterschreiben, wird vor all diesen Komplikationen gewarnt. Diese Risiken würde man freiwillig vielleicht nicht eingehen.
Und welche psychischen Folgen beobachtet man?
Die Beschneidungserfahrung wird individuell und über die Zeugenschaft im unbewussten Stressgedächtnis des Gehirns gespeichert. Wenn sie dann in einer ganz anderen Situation, etwa durch Infragestellung der Männlichkeit, wieder assoziativ angesprochen wird, kann ein Mann an Angstattacken oder sexuellen Funktionsstörungen leiden, die er sich nicht erklären kann.
Warum hört man von diesen Leiden so wenig?
Die Betroffenen schämen sich. Sie fühlen sich nicht nur in ihrer Männlichkeit beschädigt, sondern sie müssten sich auch eingestehen, dass ihre Eltern das zugelassen haben. Das ist sehr schwierig. Vielleicht ändert sich etwas, wenn sich die Betroffenen outen und es zu hohen Schadenersatzforderungen kommt.
Spielt auch das Rollenbild mit bei dieser Verheimlichung?
Selbstverständlich. Der Rollenkäfig funktioniert immer noch. Zu selten fordern Männer Hilfe ein.
Ein Thema für Männerministerin Kristina Schröder?
Ja, bitte! Sie sollte das Thema unbedingt aufgreifen. Stattdessen heißt es, die Beschneidung bei Jungen müsse erlaubt sein. Das ist schade für dieses junge Politikfeld. Wir müssen mit dem Thema der Jungenbeschneidung raus aus der Fachdiskussion und rein in die Politik.
Doch in der Politik wird so schnell wie möglich eine Regelung gesucht, die Beschneidungen bei Jungen erlaubt.
Die PolitikerInnen wissen genau, dass diese Debatte an schmerzhafte interkulturelle Sollbruchstellen rührt. Das macht auch ihnen Angst, und sie argumentieren widersprüchlich. Soll jüdisches Leben in Deutschland wieder verhindert werden?, hört man. Darum geht es überhaupt nicht. Im Gegenteil! Es soll jüdisches und islamisches Leben im Rahmen der geltenden Rechtsordnung geschützt werden.
Können Sie das politische Problem nachvollziehen, Juden und Muslimen ihre Religionsausübung nicht verbieten zu wollen?
Ja, absolut. Wir brauchen einen behutsamen Dialog, in dem die Befürchtungen und Unsicherheiten aller Beteiligten mit einfließen. Es ist verständlich, dass im Judentum und Islam starke Ängste bestehen, auf die Beschneidung zu verzichten. Man muss alle Beteiligten mitnehmen, aber bitte auch die kleinen Jungen. Das Recht auf freie Religionsausübung ist kein Freibrief für Gewalt. Das muss auch Kanzlerin Merkel sehen: Es ist nicht „komisch“, wie sie sagt, sich für die sexuelle Unversehrtheit kleiner Jungen einzusetzen. Warum gibt es noch keine Expertenhearings zu diesem Thema?
Wie könnten Kompromisse aussehen?
Das wird man sehen. Vielleicht wartet man, bis die Jungen selbst entscheidungsfähig sind – der Islam erlaubt die spätere Beschneidung –, und führt zuvor eine symbolische Beschneidung durch. Man kann übrigens im Judentum wie im Islam auch unbeschnitten der Gemeinschaft angehören.
Die Politik aber will nicht ruhig nachdenken, sondern möglichst schnell eine gesetzliche Erlaubnis der Beschneidung.
Viele Experten fürchten, dass ein solcher Schnellschuss am Ende vor dem Verfassungsgericht landen wird. Ich hoffe, dass spätestens dann endlich auch die Belange der Kinder gehört werden. Man soll Kindern nicht wehtun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“