Debatte Verarmungsangst: Trost im "Schonvermögen"
Alle Parteien wollen, dass Hartz IV gezahlt wird, auch wenn noch ein kleines Vermögen vorhanden ist. Ist dieser Vorschlag vernünftig?
W ahlkämpfe sind immer auch Phasen der Werbung um die Mittelschichtmilieus. Und deren Empfindlichkeiten. So überschlugen sich die Parteien in den vergangenen Wochen mit ihren Ankündigungen, unbedingt das "Schonvermögen" erhöhen zu wollen, also den Freibetrag, den ein Bürger sich nicht anrechnen lassen muss, wenn er Arbeitslosengeld II (Hartz IV) bezieht.
SPD-Sozialminister Olaf Scholz hat angekündigt, künftig alle Ersparnisse, die erst zum Rentenbeginn gebraucht werden, zu diesem "Schonvermögen" zählen zu wollen. Die CDU hat in ihrem Wahlprogramm eine "wesentliche" Erhöhung der Freibeträge versprochen. Die FDP fordert eine Anhebung des Schonvermögens auf 750 Euro pro Lebensjahr, will dabei aber auch die bisher anrechnungsfreie Riester-Rente mit hineinnehmen. Grüne und Linke sprechen sich schon länger für eine Stärkung der Freibeträge für die Altersvorsorge aus.
Selten gab es bei einem Sozialthema eine solche Einigkeit. Das "Schonvermögen" ist das politische Trostpflaster für die Mittelschichten in Zeiten, in denen die privaten Ausgaben für die Gesundheit steigen und die gesetzlichen Renten sinken. Die Vorschläge der Parteien greifen Sorgen auf, die jene Milieus umtreiben, übrigens als Folge ebenjener Reformen, die einige dieser Parteien mit auf den Weg brachten.
Gegenwärtig dürfen die Empfänger von Hartz IV nur sehr begrenzte Freibeträge behalten, ohne dass dieses Geld auf den Leistungsbezug angerechnet wird. Der Freibetrag liegt bei 150 Euro pro Lebensjahr für Geldvermögen plus 250 Euro pro Lebensjahr für eine Altersvorsorge, die erst mit Rentenbeginn angetastet werden kann. Das Angesparte der "Riester-Rente" bleibt bis zum Rentenbeginn anrechnungsfrei, wie eine selbst genutzte Immobilie auch.
Wer heute 40 Jahre alt ist, vielleicht aus einer Erbschaft oder sonstigen Quellen ein paar zehntausend Euro auf dem Konto hat, der bekommt ein Problem, sobald er in eine Phase des Hartz-IV-Bezuges rutscht. Denn alles Vermögen, das über 16.000 Euro liegt, muss abgeschmolzen werden, bevor der erste Euro vom Jobcenter fließt. Das erzeugt Ängste gerade bei einer Generation, der die Rente mit 67 zugemutet wird. Der späte Ruhestand verstärkt die Sorge, irgendwann im Arbeitsleben mal eine Phase "auf Stütze" durchzumachen. Auch Alleinerziehende müssen ihr Sparbuch weitgehend auflösen, wenn sie nicht mehr umhinkommen, Hartz IV zu beantragen, selbst wenn es nur ergänzend zum Teilzeitverdienst ist.
Beim "Schonvermögen" von Arbeitslosengeld-II-Beziehern geht es also weniger um Privilegien als vielmehr um Restautonomie. Zur Debatte steht nicht die Schonung der 200.000 Euro auf dem Konto eines Erben in München, sondern die Reisen, die Zahnimplantate oder die Heilmittel, die sich eine 50-jährige geschiedene Sekretärin in Hannover auch noch im Alter leisten möchte, selbst wenn sie länger arbeitslos wird.
Das Schlagwort "Mittelschicht" ist daher längst zu pauschal. Es findet vielmehr eine Aufspaltung der Mittelschicht statt, erklärt der Sozialforscher Berthold Vogel in seinem Buch "Wohlstandskonflikte". Die Mittelschichtmilieus leben heute in höchst unterschiedlichen Sicherheitszonen. Beispielsweise werden die kaum kündbaren Beschäftigungen im öffentlichen Dienst abgebaut. Im öffentlichen Dienst gibt es heute die höchste Quote an Befristungen. Immer mehr BürgerInnen erleben die Risikolagen von Soloselbständigen, befristet Beschäftigten oder Geschiedenen.
Der Privatbesitz bleibt da das letzte Refugium - gegen die Gefahr, sich eine medizinische Behandlung nicht mehr leisten zu können oder im Alter durch Verarmung ausgeschlossen zu sein. Das erlebt heute schon jeder, der sich einen gewünschten Zahnersatz nicht leisten kann, weil die 2.000 Euro dazu fehlen. Der Zuwachs an Sicherheitsgefühl ist größer, wenn man nur ein kleines Vermögen hat und davon 10.000 Euro mehr behalten kann, als für die Wohlhabenden, bei denen diese Summen keinen spürbaren Unterschied mehr machen.
Der Besitz von Kleinvermögen rettet ein Gefühl von Handlungsfähigkeit, vielleicht vergleichbar der Subsistenzwirtschaft in Schrebergärten, die früher der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum ein Gefühl von Eigenständigkeit gaben. Nach Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verfügen Facharbeiter übrigens im Durchschnitt über ein Vermögen von 46.000 Euro, Immobilienwerte eingerechnet.
Nun könnte man argumentieren, mit höheren Freibeträgen sollte nur die "Mittelschicht" auf Kosten aller Steuerzahler geschont werden. Doch das ist nicht so. Wer kein Vermögen besitzt, hat in der Regel wenig Einkommen und zahlt daher kaum Steuern für Hartz-IV-Empfänger. Außerdem spart der Staat Sozialhilfe für die Älteren, wenn diese unter Umständen in späten Jahren weniger Leistung beanspruchen, weil sie etwas Geld auf dem Konto haben.
Es macht daher Sinn, die "Schonvermögen" bei Hartz IV zu erhöhen - aber nur dann, wenn nicht etwa Geldanlagen in beliebiger Höhe geschützt werden, die nur irgendwie mit dem Fälligkeitsdatum des Rentenbeginns versehen sind. Und nur dann, wenn klar ist, dass diese Debatte nichts zu tun hat mit dem Streit über eine Vermögen- oder Erbschaftsteuer. Die Schonung von Kleinvermögen im Falle von längerer Arbeitslosigkeit ist etwas ganz anderes als das Aussparen von Familienvillen bei der Erbschaftsteuer oder die Nichtantastung von dicken Bankdepots durch eine Vermögensteuer, wie es die großen Parteien zu verantworten haben.
Wer sich mit der gesellschaftlichen Verteilung von "kleinen Sicherheiten" beschäftigt, der muss auch die Debatte aufmachen über die unterschiedlichen Sicherheitsprivilegien in der Bevölkerung. Die Anhäufung von Besitz erfüllt andere Wünsche als der Schutz vor Absturz in die Exklusion. Die Debatte über die "Schonvermögen" sollte daher zum Anlass genommen werden, auch über die neuen Spaltungen in der Mittelschicht zu reflektieren. Das ist eine politische Aufgabe für die Zukunft.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart