Debatte Spanien: Aufbruch der Vielen
Europas repräsentative Demokratien kriseln. Spanien zeigt, dass davon nicht nur die Rechtspopulisten profitieren müssen. Die Macht der Finanzmärkte kann gebrochen werden.
![](https://taz.de/picture/264517/14/SPain.20110605-14.jpg)
D ie Massenproteste von Madrid und Barcelona haben viele überrascht. Die spanische Gesellschaft hatte mit der Transición, dem Ende der 1970er-Jahre zwischen Franquisten, Königshaus und Linksparteien ausgehandelten Kompromiss zur Modernisierung des Landes, eine rasante Entpolitisierung erlebt. Und ausgerechnet diese Gesellschaft bringt heute neue Formen politischer Bewegung hervor?
Neu daran ist, dass der Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach oben mit einer radikaldemokratischen Praxis im öffentlichen Raum verbunden wird. Man demonstriert gegen die Sparprogramme der spanischen Regierung, mit denen Spekulationsvermögen und - nicht zuletzt deutsche - Banken gerettet werden sollen. Man demonstriert aber auch gegen die real existierende Demokratie. "Wir lassen nicht länger zu, dass andere für uns sprechen. Wir wollen selber sprechen", lautet eine der zentralen Losungen der Revolte.
Die Demonstrierenden selbst haben ihren Protest in eine Reihe mit den arabischen Bewegungen gestellt und die Puerta del Sol als europäischen Tahrirplatz bezeichnet. Keine schlechte These: Soziale und politische Teilhabe sind auch in Europa uneingelöste Versprechen. Doch wohl noch interessanter als der Bezug zur arabischen Revolte sind die Parallelen zu den Bewegungen, die den lateinamerikanischen Kontinent in den vergangenen 20 Jahren verändert haben.
Es begann in Lateinamerika
Auch in Argentinien, Venezuela oder Kolumbien entzündete sich der gesellschaftliche Widerstand an einer Austeritätspolitik, mit der die Kosten der ökonomischen Krise nach unten abgewälzt wurden. Auch dort richtete sich die Wut gegen die Repräsentation der politischen und medialen Apparate: "Sie sollen alle abhauen", lautete das Motto in Argentinien 2001. Und in Venezuela stürmten die Bewohner der Armenviertel 1989 ganz einfach die Einkaufsmeilen, um sich jenen Wohlstand zu holen, den man ihnen immer versprochen hatte.
Und schließlich war, wie heute in Spanien, die politische Linke vor den lateinamerikanischen Revolten völlig marginalisiert gewesen. Das scheint kein Zufall zu sein: Gerade weil niemand beanspruchen konnte, die Ausgeschlossenen zu repräsentieren - weder Politik noch Gewerkschaften, Medien oder Intellektuelle -, fand die Gesellschaft, zumindest phasenweise, zum Kern der Demokratie zurück: zur Artikulation der Vielen.
Die Krise der Repräsentation hat nun offensichtlich also auch Westeuropa erreicht. Aber woran liegt das?
Der britische Politologe Colin Crouch erklärte den Legitimationsverfall der politischen Systeme in seinem vielbeachteten Essay "Postdemokratie" (2005) mit dem Erstarken der ökonomischen Lobbys, die den demokratischen Prozess gezielt unterlaufen. Das ist nicht falsch und bleibt doch an der Oberfläche. Folgt man Crouch, dann war nämlich in den Zeiten des Wohlfahrtsstaats noch alles weitgehend in Ordnung.
Zwei-Klassen-Demokratie
Das Problem aber ist grundsätzlicherer Natur. Da ist einerseits die Tatsache, dass die liberale Demokratie von einem Widerspruch durchzogen wird: Politische Gleichheit und Freiheit, wie sie die Demokratie postuliert, sind mit der real existierenden Ungleichheit im Kapitalismus nicht wirklich vereinbar. Am konkreten Beispiel wird das deutlich: Für Kapitaleigentümer hat die Presse- und Meinungsfreiheit eine reale Bedeutung; für den Hartz-IV-Empfänger hingegen handelt es sich um ein formales Recht. Denn auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse kann er faktisch keinen Einfluss nehmen.
Die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt in dieser Hinsicht gepanzert. Parteien und parlamentarische Apparate sorgen dafür, dass der Widerspruch zwischen sozialer Herrschaft und politischer Gleichheit nicht eskaliert. Die Anliegen der Mehrheit werden zwar nicht vollständig ignoriert, aber sie werden herrschaftlich gefiltert. Als Wähler der Reformparteien erleben wir das regelmäßig: Die von uns gewählten Regierungen machen jene Politik, die wir doch eigentlich abgewählt haben. Rot-Grün führte Deutschland in den Krieg und setzte Hartz IV durch, in Berlin hat der rot-rote Senat die Privatisierung des öffentlichem Eigentums forciert.
Darüber hinaus haben wir es aber auch mit einem allgemeinen Widerspruch zu tun. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, der in den letzten Jahren zur führenden Stimme kritischer Theorie in Lateinamerika aufstieg, beschreibt unsere Gesellschaften als "Demokratien geringer Intensität", in denen "Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel der (ökonomischen, sozialen, rassischen, sexuellen, religiösen) Tyranneien" angesiedelt sind.
Revolte gegen die Finanzmärkte
Die demokratische Revolution steht somit auch nach über 200 Jahren noch am Anfang. Aus all diesen Gründen fallen politischer Diskurs und Realität immer weiter auseinander.
Bislang hatte man den Eindruck, dass Europa auf diese Krise von Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten - gegen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Migranten - richtet, hat bisher von der Krise profitiert. Die "spanische Revolution" zeigt nun einen anderen Ausweg auf. Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.
In Lateinamerika haben die Revolten der letzten zwanzig Jahre, ebenso wie jetzt in Nordafrika, zu einem Bruch des politischen Systems geführt. Ein so eindeutiger Ausgang zeichnet sich in Europa nicht ab. Tatsächlich ist völlig unklar, ob und wie es mit der "Bewegung 15-M" weitergeht.
Trotzdem hat diese Bewegung, in Spanien wie anderswo in Europa, eine klare Perspektive. Wenn der Widerstand, der sich in Spanien und Griechenland zu artikulieren begonnen hat, sich ausbreitet, kann die Umverteilungspolitik der EU, die die Finanzkrise von den Bedürftigen bezahlen lässt, zu Fall gebracht werden. Die Revolte hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte brechen. Das ist mehr, als sich jede Reformregierung heute realistisch vornehmen kann.
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