Debatte Reiche in Europa (III): Endstation Kindergarten
In Großbritannien entscheidet die Herkunft sehr strikt über den Bildungsweg der Kinder. Und die Schuluniform für eine Privatschule ist für viele Arbeiterfamilien schlicht zu teuer.
B irth, not worth", so heißt die Parole in Großbritannien: Es kommt auf die Herkunft an, nicht den Wert. Die britische Mittelschicht achtet mehr denn je darauf, die Lage ihrer Kinder zu verbessern oder zumindest zu erhalten. David Goodheart, Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Prospect, bezeichnet das als eine Art "Rüstungswettlauf", der alles von Schulen über Praktika bis hin zu Freizeitaktivitäten abdecke.
Da viele "gute" Arbeiterjobs durch technologische Entwicklungen und freien Handel weggefallen sind, sagt Goodheart, glauben Jugendliche, die früher nach solchen Jobs strebten, dass sie bei dem Bildungswettlauf nicht mithalten können, und gehen nach der zweiten oder dritten Oberschulklasse ab.
Die Selektion fängt schon in der Grundschule an: Die Aufnahme in staatlichen Schulen ist strikt nach dem Einzugsgebiet geregelt, und das ist sogar bis zum einzelnen Haus definiert. Viele Eltern aus der Mittelschicht ziehen in bestimmte Viertel, in denen die Schulen einen besonders guten Ruf haben, oder sie besorgen sich über Verwandte oder Freunde eine Scheinadresse, um ihren Kindern den Besuch einer solchen Schule zu ermöglichen. Manche Schulen arbeiten eng mit Kindergärten zusammen und nehmen deren Kinder bevorzugt auf. Arbeiterkinder bleiben dadurch außen vor, denn Kindergartenplätze sind teuer.
Oder die Eltern aus der Mittelschicht schicken ihre Kinder gleich auf Privatschulen, die nicht nur durch die Schulgebühren, sondern auch durch die Nebenkosten eine Auswahl treffen: Darf man zum Beispiel auf staatlichen Schulen die Uniform kaufen, wo man will, solange die Farben stimmen, schreiben Privatschulen genau vor, wo die Uniform mit eingesticktem Schulwappen zu besorgen ist. Darüber hinaus sind die außerschulischen Aktivitäten, wie zum Beispiel ein Skiurlaub in den Alpen, Klavierunterricht oder Nachhilfe, für Arbeiterfamilien kaum zu stemmen.
So schaffen nur knapp 4 Prozent der Schulabgänger in den ärmsten Gegenden Großbritanniens den Sprung an weiterführende Schulen oder Ausbildungsstätten, in den reichsten 360 Wahlkreisen sind es dagegen 99 Prozent. In den ärmsten 20 Wahlkreisen geht nicht mal eins von 20 Kindern auf die Universität. Hinzu kommt die unterschiedliche Qualität der Universitäten. Vielen polytechnischen Hochschulen und Fachhochschulen wurde der Status einer Universität verliehen, aber das nützt den Absolventen wenig: Die Arbeitgeber haben rund zwei Dutzend Universitäten in die Kategorien Gold, Silber und Bronze eingeteilt, und wenn sie neue Mitarbeiter suchen, sehen sie sich nur dort um und nicht bei den übrigen 125 Universitäten.
RALF SOTSCHECK ist taz-Korrespondent für Großbritannien und Irland. Er lebt und arbeitet in Dublin.
Die gute Führung
Der stellvertretende Premierminister Nick Clegg sagte: "Es ist eine Schande und eine Tragödie, dass zwei Kinder, die zur selben Zeit im selben Krankenhaus geboren werden, in ihrem Leben völlig unterschiedliche Chancen haben, die vom Einkommen ihrer Eltern abhängen." Clegg bezog sich auf einen Untersuchungsbericht zu sozialer Mobilität, der von seinen Liberalen Demokraten in Auftrag gegeben worden war. Der Bericht enthielt 27 Empfehlungen, um "die fortdauernde Ungleichheit in der Gesellschaft" zu beenden.
Die Investitionen in den Bildungsbereich seien vor allem der Mittelschicht zugutegekommen, sagt Martin Narey, Geschäftsführer der Kinderwohlfahrtsorganisation Barnardo, der die Untersuchung leitete. Vorbedingung für soziale Mobilität sei nun mal ein grundlegendes Einkommen. Die oberen 10 Prozent besitzen in Großbritannien inzwischen jedoch mindestens hundertmal so viel wie die unteren 10 Prozent. "Diese Analyse zerstört die Vorstellung", sagte Clegg, "dass Großbritannien eine freie und faire Gesellschaft ist."
Nach Veröffentlichung des Berichts setzte der damalige Labour-Premier Gordon Brown eine Social Mobility Commission ein, die im Januar dieses Jahres zu einem ähnlichen Ergebnis kam. Alan Milburn, der Chef der Kommission, stellte fest, dass mehr als die Hälfte aller beruflichen Führungskräfte mit Menschen besetzt werden, die Privatschulen besucht haben, obwohl sie nur 7 Prozent aller Schüler ausmachen.
Und es ändert sich nichts
Die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen hören sich etwas hilflos an: Zunächst einmal wird die Social Mobility Commission beibehalten und soll alljährlich einen Bericht über eventuelle Fortschritte vorlegen. Des Weiteren soll der öffentliche Dienst sozioökonomische Ungleichheiten anpacken, der Zugang zu den Universitäten soll erweitert werden, und die Informationen sowie Beratungen für junge Menschen sollen verbessert werden. Konkrete Maßnahmen? Eher nicht.
Dabei war das Problem keineswegs unbekannt. Bereits 2007 hatte die Wohltätigkeitsorganisation Sutton Trust darauf hingewiesen, dass sich die soziale Mobilität in Großbritannien in 30 Jahren nicht verbessert habe. Spätestens im Alter von sieben Jahren fallen begabte Kinder aus armen Familien in ihren akademischen Leistungen hinter weniger begabte Kinder aus reichen Elternhäusern zurück. "Es ist eine Schande, dass Großbritannien immer noch am Ende der internationalen Tabelle der sozialen Mobilität steht", sagte Peter Lampl, der Vorsitzende der Organisation. "Es ist erschütternd, dass der Lebensweg junger Menschen vom Einkommen der Eltern abhängt und dass sich daran in 30 Jahren nichts geändert hat."
Neben dem Einkommen spielen vor allem in der Politik auch Beziehungen, Verwandtschaft und Heirat eine Rolle. Es geht fast zu wie bei der Aristokratie, wenn man sich die letzte Labour-Regierung ansieht, die im Mai abgewählt wurde. Im Kabinett saßen zwei Brüder, ein Ehepaar, der Enkel eines früheren stellvertretenden Premierministers, die Nichte und der Sohn zweier Lords und die Ehefrau des Schatzmeisters der Partei. Die US-Amerikaner haben immerhin einen Präsidenten gewählt, der Sohn einer alleinerziehenden Mutter ist, die zumindest zeitweise auf Lebensmittelmarken angewiesen war. In Großbritannien haben sie im Mai mit dem Tory-Chef David Cameron zum 19. Mal einen Zögling der Eliteschule Eton zum Premierminister gemacht.
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