Debatte RAF: Die fehlende Akte

Die neuesten Verwicklungen um Verena Becker wären nicht denkbar, hätte der Staatsschutz vor dreißig Jahren den Rechtsstaat mehr respektiert.

Es scheint alles nichts zu helfen: Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen, Spielfilme mit der Hoffnung auf Oscarwürden in Hollywood, Diskussionen zum Thema 30 Jahre Deutscher Herbst in evangelischen und anderen Akademien - die Rote Armee Fraktion, die RAF, will und will nicht Geschichte werden.

Gestern noch galt der Vorwurf Michael Bubacks, auf das Verfahren wegen der Ermordung seines Vaters, des früheren Generalbundesanwaltes, sei mit dem Ziel, Verena Becker vor einer einschlägigen Verurteilung zu schützen, manipulativ Einfluss genommen worden, in den Augen der heutigen Bundesanwaltschaft bestenfalls als eine Mischung aus Querulanz und Verschwörungstheorien.

Der frühere BKA-Beamte Steinke, der an den Ermittlungen wegen der Anschläge der Roten Armee Fraktion in zentraler Rolle beteiligt war, hat erst unlängst in einem Leserbrief geradezu emphatisch darauf insistiert, dass es in den Strafverfahren, deren Gegenstand die Aufklärung und Ahndung der Ermordung des Generalbundesanwaltes war, durchweg mit rechten Dingen zugegangen sei.

Heute, mehr als 32 Jahre nach der Tat, soll es auch in den Augen der Bundesanwaltschaft plötzlich neue, aus Notizen oder Aufzeichnungen gewonnene Erkenntnisse geben, die den dringenden Verdacht einer Beteiligung von Verena Becker - in welcher Rolle auch immer - an dem Mordanschlag begründen. Kein Wunder, dass bei solcher Entwicklung auch Leute, die eine natürliche Aversion gegen Verschwörungstheorien hegen, ins Nachdenken geraten.

Noch immer sind die Akten mit den Aussagen, die Frau Becker nach ihrer Inhaftierung im Jahre 1977 dem Verfassungsschutz gegenüber gemacht haben soll, aufgrund einer Anordnung von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gesperrt.

Es wäre interessant zu wissen, welche Belange oder welche öffentlichen Interessen der Bundesrepublik der Freigabe dieser Akten aus Sicht des Bundesinnenministers auch mehr als 30 Jahre nach der Tat, deren Opfer der frühere Generalbundesanwalt war, noch entgegenstehen. Gehört es nicht zu den ersten rechtsstaatlichen Belangen und öffentlichen Interessen der Bundesrepublik, nichts unter dem Deckel zu halten, was zur Aufklärung einer solchen Tat beizutragen in der Lage ist? Solange der Bundesinnenminister bei seiner Weigerung bleibt, die in Frage stehenden Akten des Verfassungsschutzes freizugeben, wird der Manipulationsverdacht, den Michael Buback äußert, stets neue Nahrung erhalten.

Für die ruhige Gelassenheit des Rechtsstaates, die Willy Brandt als Bundeskanzler noch 1972 im Umgang mit den Anschlägen der RAF empfohlen hatte, war im Strafverfolgungsklima der 70er- und 80er-Jahre in der alten Bundesrepublik nur wenig Platz. Zwar gab es keine rechtsfreien exterritorialen Räume wie in den USA des George W. Bush in Guantánamo oder anderswo. Doch war auch hierzulande die Vorstellung, dass innerhalb der Grenzen, die der Rechtsstaat auch bei der Strafverfolgung setzt, einer Gruppe wie der RAF nicht erfolgreich zu Leibe gerückt werden kann, ziemlich verbreitet.

Vor diesem Hintergrund mag es sein, dass die Verschonung kooperationswilliger Verdächtiger vor bestimmten Anklagen und Verurteilungen als Preis für die Erlangung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse über mutmaßliche Taten, Täter oder Organisationsstrukturen einer Roten Armee Fraktion als nicht zu hoch betrachtet wurde - zumal dann, wenn es andere gab, die als Rädelsführer der RAF und mögliche Mittäter in gleicher Sache gleichsam beschwerdefrei verurteilt werden konnten.

Frau Becker ist wegen anderer, von ihr als Mitglied der RAF begangener Taten zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und bereits vor Jahr und Tag, nämlich 1989, vom Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker begnadigt worden. Soweit bekannt, hat sie sich wie auch andere, die jetzt nach mehr als 30 Jahren beschuldigt werden, an der Ermordung des Generalbundesanwaltes beteiligt gewesen zu sein, längst von ihrer Vergangenheit abgewandt. Beim jetzigen Stand der spekulativen Dinge ist nicht auszuschließen, dass der Vorwurf ihrer Beteiligung an dem Anschlag auf den Generalbundesanwalt nur deshalb nicht in das frühere Verfahren mit einbezogen wurde, weil einschlägige damals bereits verfügbare Erkenntnisse oder Beweismittel zum Schutz der Belange der Bundesrepublik gezielt außen vor gelassen wurden.

In anderer Sache gleichsam beschwerdefrei verurteilt

Wäre der Vorwurf der Beteiligung an dem Anschlag auf den Generalbundesanwalt mit der Folge einer Verurteilung auch insoweit bereits im alten Verfahren "fällig" gewesen, aber aus vorgeblichen Gründen des Staatsschutzes unterschlagen worden, wären - da eine andere als die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe auch in diesem Fall nicht möglich gewesen wäre - die RAF und ihre eigene Rolle in der RAF auch für Frau Becker selbst mittlerweile Geschichte. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sie längst bewährungsbedingt in Freiheit und heute nicht mehr mit dem neuen Vorwurf konfrontierbar.

Aber auch dann, wenn der Vorwurf der Beteiligung am Anschlag auf Buback noch nicht zum Zeitpunkt des gegen Frau Becker wegen anderer Straftaten 1977 durchgeführten Strafverfahrens, aber trotz einschlägiger Erkenntnisse erst Anfang der 80er-Jahre zum Schutze der Betroffenen außen vor gelassen wurde, stellt sich die Frage, wie rechtsstaatlich es eigentlich zugeht, wenn das, was damals erklärtermaßen unter den Tisch fallen sollte, der damals Begünstigten mehr als dreißig Jahre nach der Tat als Schuld- und Anklagevorwurf präsentiert wird.

Sonderlich unbefleckt sähe der rechtsstaatliche Strafanspruch auch bei solchen Vorzeichen nicht aus.

Michael Bubacks Interesse an der Korrektur der Versäumnisse, die es aus seiner Sicht in den Verfahren aus Anlass der Ermordung seines Vaters gegeben hat, ist in jeder Beziehung nachvollziehbar und plausibel. Rechtsstaatliche Freude mag beim derzeitigen Informationsstand aber dennoch nicht so recht aufkommen.

RUPERT VON PLOTTNITZ

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