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Debatte Protestwelle in GriechenlandDas Land des Egoismus

Kommentar von Thomas Plaul

Die Krawalle in Griechenland zeugen vom breiten Unmut über das "System Hellas". Die Bevölkerung hat es lange gestützt, doch die Jugend zieht daraus keinen Nutzen mehr.

D ie Krawalle nach dem Tod des Schülers Alexis Grigoropoulos, der am 6. Dezember in Athen von einer Polizeikugel getroffen wurde, haben Griechenland in eine tiefe Krise gestürzt. Die Ausschreitungen lassen sich nicht nur auf die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die einseitige Verteilung des Wohlstands und die starken Preissteigerungen zurückführen. Sie haben auch mit speziell griechischen Problemen wie dem extrem schlechten Schulsystem und der besonders für junge Menschen katastrophal hohen Arbeitslosigkeit (die Jugendarbeitslosigkeit ist in Europa "nur" etwa doppelt so hoch wie die allgemeine, in Griechenland mit 24 Prozent aber dreimal so hoch!). Hinzu kommt eine politischen Kultur, die von einer "dynastischen Erbdemokratie" zwischen den Familien Papandreou (Pasok) und Karamanlis (Nea Demokratia) sowie Patronage, Klientelismus und Korruption geprägt ist und einen so aufgeblähten wie ineffizienten Staatsapparat hervorgebracht hat.

Bild: privat

Thomas Plaul, 47, arbeitet als Kulturjournalist für Rundfunk und Print. Er ist mit einer Griechin verheiratet und lebte zwischen 2003 und 2006 in Athen. Derzeit wohnt er in Brüssel und Frankfurt am Main.

So problematisch wie die politische Struktur des Landes sind auch die staatlichen Institutionen. Die Polizei etwa wird von der Mehrheit der Bevölkerung zum Teil offen angefeindet. Das hat weniger mit den Übergriffen einiger Polizisten zu tun, die von den Gerichten oft nur milde geahndet werden. Vielmehr wurzelt dieser Argwohn in der Geschichte des Landes und geht auf die Rolle der Polizei während der Obristendiktatur zurück. Überhaupt hegt man in Griechenland aufgrund der Geschichte quer durch alle Gesellschaftsschichten ein tiefes Misstrauen gegen jegliche Autorität. Gesetze und Regelungen "bei Bedarf" zu umgehen, das wird weithin akzeptiert - jeder muss sich, so glaubt man, selbst durchschlagen. Aber was in den Jahrhunderten unter osmanischer Fremdherrschaft oder unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg, aber auch während der Metaxas- und der Obristendiktatur noch rational war, stellt in einer Demokratie, die auch auf dem Gemeinschaftssinn und dem Verantwortungsgefühl aller beruht, ein Problem dar.

So machen es sich viele in Griechenland zu einfach, lediglich das politische Establishment anzuklagen. Die meisten Griechen wissen um die tief reichenden Mängel ihrer Gesellschaft und kritisieren sie, stützen und fördern sie aber gleichzeitig durch ihr Verhalten. Denn zu viele - Alte wie Junge, Wohlhabenden wie weniger Wohlhabende - profitieren von diesem "System Hellas" oder haben sich zumindest relativ bequem darin eingerichtet. Im Dienstleistungsbereich ist Schwarzarbeit eine Selbstverständlichkeit, weshalb sie in Griechenland bis zu 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Wer die leeren Staatskassen beklagt, übersieht gerne den eigenen Anteil an der Misere. Und mit dem Fehlverhalten einiger Politiker und Wirtschaftsbosse lässt sich der eigene Egoismus gut rechtfertigen. Es ist eben einfacher, andere - die Geschichte, die EU, den Staat - für alles Negative verantwortlich zu machen, als selbst Verantwortung zu übernehmen.

Wer in Griechenland gelebt hat, kennt das Phänomen: Im Nobelrestaurant wie auch im einfachen Kafenion wird gerne auf den Staat und seine verfilzten Strukturen geschimpft. Aber solange die Aussicht besteht, auch nur ein kleines Stück von dem Kuchen, den ebendieser Staat verteilt, abzubekommen, belässt man es beim Nörgeln. Jahrzehntelang schien das auch zu funktionieren - allerdings nur, weil der Klientelismus so weit (fremd-)finanziert werden konnte, um einem Großteil der Griechen ein Minimum an materieller Sicherheit zu garantieren. Nun aber sind die Töpfe leer und die griechischen Finanzen marode. Da rächt es sich, dass etliche EU-Gelder in Einzelprojekte - und damit häufig auch in die Taschen einiger weniger - "investiert" wurden, statt in eine nachhaltige Wirtschaftsstruktur.

Viele junge Menschen, vor allem aus den mittleren und unteren Schichten, ziehen aus dem "System Hellas" keine Vorteile (mehr), eine Besserung ist nicht in Sicht. Ihre Perspektivlosigkeit ist allerdings auch dem eigenen, als Individualismus verbrämten Egoismus geschuldet. Dass viele derjenigen, die in den letzten Wochen in Griechenland eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, nicht selbstkritisch sind und weder politisch denken noch handeln, sondern ihrer Zukunftsangst jetzt durch blinde Gewalt Ausdruck verleihen - genau das ist es wohl, was linke Intellektuelle und langjährige Kritiker der politischen Verhältnisse wie den Schriftsteller Petros Markaris nun so heftig poltern lässt.

Durch die Straßen sind in den vergangenen Wochen viele gezogen: verwöhnte Jugendliche mit modischem Che-Guevara-T-Shirt neben solchen, deren Familien nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen im teuer gewordenen Griechenland bezahlen sollen - geschweige denn, wie sie ihren Kindern irgendeine Ausbildung finanzieren sollen. Und an den Ausschreitungen beteiligt waren nicht nur Berufsanarchisten - sondern viele, die es schlicht und einfach satt haben, dass über die offenkundigen Makel der griechischen Gesellschaft seit Jahrzehnten nur geredet wird und Veränderungen stets versprochen, nie aber umgesetzt werden. Das erschreckende Ausmaß der Gewalt zeigt, wie viele junge Menschen in Griechenland - egal, aus welcher Schicht sie stammen - nicht nur den Glauben an die Verantwortlichen im Lande, sondern auch an hergebrachte Formen des Protests verloren haben, weil dieser sich bislang als folgenlos erwiesen hat.

Diese jungen Menschen haben auch begriffen, dass das Bollwerk aus Politik und Wirtschaft von der breiten Masse der Bevölkerung im Grunde mitgetragen wird, weil auch sie davon profitiert. Das könnte erklären, weshalb nicht nur Regierungsgebäude und Banken, sondern auch kleine Geschäfte, Kioske und Wohnhäuser angegriffen wurden. Die Wut richtet sich gegen alles und jeden, was wiederum zu einem neuen Widerspruch in dieser an Widersprüchen nicht armen Gesellschaft geführt hat: Viele Eltern, die den Protesten ihrer Kinder in der Vergangenheit aufgeschlossen gegenüberstanden und massive Staats- und Polizeieinsätze ablehnten, rufen nun plötzlich - geschockt vom Ausmaß der Zerstörung und aus Furcht, dass demnächst auch ihr kleines Gemüsegeschäft verwüstet oder ihr Auto angesteckt werden könnte - nach mehr Polizeigewalt.

Die politischen und gesellschaftlichen Lügen und die Heuchelei, die das "System Hellas" über Jahrzehnte ausgemacht haben, scheinen an ein Ende gekommen. Dazu hat auch die orthodoxe Kirche, die zuletzt in mehrere aufsehenerregende Skandale verwickelt war, ihren Beitrag geleistet. Nun wird es nicht mehr ausreichen, von Demokratie zu reden, und an undemokratischen Strukturen festzuhalten, Veränderung zu versprechen, zu denen man dann doch nicht bereit ist, oder vorzugeben, die Nöte der jungen Menschen zu verstehen, ohne deren Ursachen anzugehen. Führt man dieses Theater fort, dann wird die Gewalt immer häufiger zur Form der Auseinandersetzung werden.

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